Elfriede Hammerl: Memento
Wir müssen uns unserer Sterblichkeit bewusst werden! Wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen! Das las und lese ich immer wieder in Betrachtungen zur herrschenden Pandemie, und es wird dabei insinuiert, dass Corona den tieferen Sinn habe, uns auf die verwerfliche Leichtfertigkeit hinzuweisen, mit der wir das Thema Tod verdrängen. Fast klingt es, als sei das Coronavirus missionarisch unterwegs, um uns unseren Widerwillen gegen das Sterben auszutreiben.
Interessante Überlegung, aber, herzlichen Dank, sie überzeugt mich nicht. Ich bin mir meiner Sterblichkeit durchaus bewusst. Immer mehr, je kleiner der voraussichtliche Rest meines Lebens wird. Ich kann mir ausrechnen, was ich wahrscheinlich und was ich sicher nicht mehr erleben werde. Ich weiß, ich habe ein Ablaufdatum, und es rückt näher. Das ist manchmal erleichternd, wenn ich daran denke, welche Konflikte mich nichts mehr angehen werden, aber meistens ist es nicht sehr lustig, zumal ich keinen festen Glauben an ein Jenseits habe, das für mich umso schöner sein wird, je braver ich den Geboten meiner Religion gefolgt bin.
Ich folge keinen religiösen Geboten. Der Gott, an den ich zu glauben bereit wäre, würde mir nicht vorschreiben, was ich essen und wie ich mich anziehen soll, es wäre ihm egal, ob ich am Sonntag in der Kirche war, er würde mich nicht in ein Korsett starrer, sinnentleerter Regeln zwängen, er würde Verständnis für meine Schwächen haben und manchmal meinen guten Willen fürs nicht so gut gelungene Werk nehmen. Ob es diesen Gott gibt, ist – für mich jedenfalls – fraglich, sodass ich nicht weiß, ob mich irgendeine Art von Trost nach dem Tod erwartet. Ich werde mich von dieser Welt nur höchst ungern trennen. Trotzdem weiß ich, dass es mir nicht erspart bleiben wird. Das ist das eine.
Das andere, mindestens ebenso gewichtige, ist die Tatsache, dass ich mir auch der Verletzlichkeit und der Sterblichkeit von Menschen bewusst bin, die mir nahestehen und deren Verlust ich nicht ertragen würde. Die Angst vor dem Tod, die wir alle haben, ist ja auch eine tiefe Sorge um geliebte Menschen. Wir verdrängen sie, weil es nicht auszuhalten wäre, ständig an sie zu denken. Mühsam lernen wir, loszulassen. Das kleine Kind, das seine ersten Schritte macht. Das große Kind, dem erlaubt sein muss, abends auszugehen, auch wenn wir nicht einschlafen können, ehe wir nicht das Öffnen der Wohnungstür hören.
Das erwachsene Kind, das sein eigenes Leben leben muss, was nur möglich ist, wenn wir unsere Angst für uns behalten und besorgtes Nachfragen unterdrücken, um es nicht mit unserer Furcht zu belasten. Wir müssen darauf vertrauen, dass unser Partner oder unsere Partnerin am Abend wohlbehalten zurückkommen wird, wenn wir uns am Morgen trennen. Wir müssen damit rechnen dürfen, dass uns unsere Freunde und Freundinnen erhalten bleiben, statt bei jedem Abschied zu fürchten, dass wir sie nicht wiedersehen werden. Alles andere ist unerträglich. Ja, es gibt keine Garantie, dass wir nicht doch eines Schlechteren belehrt werden. Wenn das Unvorstellbare – das unvorstellbar ist, weil wir es uns mit gutem Grund nicht vorstellen wollen – passiert, dann müssen wir es aushalten. Aber es wäre nicht auszuhalten, sich das Unvorstellbare ständig vorzustellen.
Darum macht es mich ziemlich sauer, wenn ich aufgefordert werde, die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz nur ja nicht aus den Augen zu verlieren, denn es ist legitim, sie zeitweilig auch zu vergessen. Und es macht mich sauer, wenn eine Pandemie dazu benützt wird, den Tod zu beschwören (samt ewigem Leben), als wäre es unmoralisch, sein endliches Leben so lange wie möglich so unbeschwert wie möglich leben zu wollen.
Nein, das heißt natürlich nicht, dass ich die Gefährlichkeit von Corona verdränge, ganz im Gegenteil. Aber ich finde es unnötig, ja, sogar unanständig, die vernünftige Furcht vor dem Virus auszudehnen auf eine Furcht, die immer schon geweckt wurde, um Menschen kleinmütig zu halten – die Furcht vor einer rächenden höheren Macht. Wer in der Pandemie eine metaphysische Botschaft sieht, hängt bloß einer anderen Art von Verschwörungstheorie an.
Allzu sorglos hätten wir bisher gelebt, heißt es. Selbst wenn das stimmte – wie verwerflich wäre es denn? Und vor allem: Wer ist wir? Wie so oft leiden auch jetzt vor allem jene, die schon vor Corona wenig zu lachen und zu feiern hatten. Die Hungernden in weiten Teilen der Welt, die Terrorisierten, die Vertriebenen, die Rechtlosen wurden und werden ständig auf ihre Sterblichkeit gestoßen. Vielleicht sollte man, wenn es denn frommer Aufforderungen bedarf, nicht zum Nachdenken über unsere Endlichkeit aufrufen, sondern zum Nachdenken darüber, wie man mehr Menschen zu mehr Sorglosigkeit verhelfen kann. Damit sie ihre Sterblichkeit getrost für eine Weile vergessen können.
Die Seuche als Chance? Ach was. Die Seuche bestraft nicht und bessert nicht. Weltverbesserung sollte ohne Seuche möglich sein.