Elfriede Hammerl: Neunzig
Aber ich fühle mich gar nicht wie 50!, sagte sie, als ich ihr zum Fünfziger gratulierte, vor vielen Jahren. Ich war damals noch weit entfernt von meinem eigenen Fünfziger und dachte bei mir: Na, wenigstens spürt sie’s nicht, das hohe Alter, aber was für ein Glück, dass ich nicht an ihrer Stelle bin. Ich dachte nicht: dass ich noch nicht an ihrer Stelle bin, denn obwohl ich mir ein langes Leben wünschte, schien es mir unvorstellbar, jemals ein halbes Jahrhundert alt zu sein, irgendwie hoffte ich, lange zu leben ohne den Schock des fünfzigsten, sechzigsten oder siebzigsten Geburtstages ertragen zu müssen.
Inzwischen weiß ich, was sie meinte, als sie sagte, sie fühle sich nicht wie 50. Wir fühlen uns alle nicht wie 50, 60 oder 70, wenn wir einmal so alt sind, weil wir glauben, wir müssten uns mit 60 et cetera genauso fühlen, wie die Jungen meinen, dass man sich in diesem Alter fühlt. Oder wie wir als Junge gemeint haben, dass man sich in diesem Alter fühlen muss. Innerlich, sagte mir einmal eine taffe 85-Jährige, innerlich bin ich nie älter geworden als 35. Das kann ich mittlerweile gut verstehen.
Ja, das ist ein Widerspruch, zu wissen, dass das Endliche immer endlicher wird
Aber jetzt ist die, an deren Fünziger ich mich noch so gut erinnere, über Nacht 90 geworden! In Worten: neunzig! Das ging vielleicht schnell! Ich bin versucht zu sagen, ich warne euch, Leute, vor dem hinterhältigen rasanten Vergehen der Zeit, doch andererseits: Wovor und wozu warne ich euch? Wir hätten die Zeit nicht dazu bringen können, langsamer zu vergehen, und immerhin haben wir eine Menge Leben untergebracht in diesen 40 Jahren seit ihrem 50. Geburtstag, an dem sie nicht glauben mochte, dass sie 50 war. Wir erlebten eine Menge Leben und leider auch einiges an Sterben, darauf hätten wir verzichten können, dieses Ausdünnen der Reihen, das Verblassen von Menschen auf Erinnerungen, aber das Leben, das wir erlebt haben, hat sich, alles in allem, gelohnt.
Jetzt ist sie also 90, ich habe ihr wieder gratuliert, und diesmal sagte sie nicht, sie fühle sich aber nicht wie 90, und als ich sie in ihrem Rollstuhl sitzen sah, ertappte ich mich dabei, dass ich mir noch immer ein langes Leben wünsche, ohne mir vorstellen zu wollen, dass ich dabei um erschreckend runde Geburtstage nicht herumkomme. Ich weiß, das hört sich komisch an für euch alle, die ihr noch davon ausgeht, dass bis zu eurem Neunziger – in gefühlten 100 Jahren – die ewige Jugend erfunden sein wird. Diesen Optimusmus habe ich schon eingebüßt, vor allem sieht die Spanne bis 90 nicht mehr so lang aus, wie sie aussehen müsste, wenn ich mich sorglos zurücklehnen sollte. Ja, das ist ein Widerspruch, zu wissen, dass das Endliche immer endlicher wird, und innerlich auf 35 zu beharren, so, als wäre der Vierziger nach wie vor nicht ausmalbar.
Nein, das ist vor allem eine Zumutung: sich dem Leben verbunden zu fühlen, neugierig zu sein auf die Zukunft, und dabei zu wissen, dass der Sand in der Sanduhr immer schneller nach unten rinnt. So vieles, was nicht mehr möglich sein wird. Ein Jahr in Paris zu leben. Wirklich gut Italienisch zu lernen. Zu sehen, wie Wien in 20 Jahren ausschaut. Und noch später: einmal wieder leichtfüßig den Gang hinunterlaufen, ohne Rollator. Selber im Supermarkt einkaufen. Sich selber kochen, worauf man Lust hat. Allein aufs Klo gehen. Auf niemanden angewiesen sein.
Aber nicht ständig optimistisch und furchtlos sein zu sollen, wäre eine angenehme Option
Darüber darf man nicht reden. Das will niemand hören. Das will sich niemand ausmalen. Verzweifelt laufen wir vor unserer Sterblichkeit davon, bis hin zur Lächerlichkeit. Alle die Silberrücken, die damit kokettieren, dass sie aber so was von noch nicht erwachsen seien! Alle die immer späteren Kinder, in die Welt gesetzt, um ihren späten Eltern den Glanz der unaufhörlichen Jugend zu bescheren. Alle die entsetzlich munteren Sprüche, hinter denen wir uns verbarrikadieren. Alt werden ist nichts für Feiglinge. Wir werden nicht älter, sondern nur weiser. Der zweite Frühling kommt mit den dritten Zähnen. Das Alter ist unwichtig, es sei denn, du bist ein Käse. Die Verbissenheit, mit der wir unsere Köper zwingen, fit zu bleiben. Die Schönheitstorturen, Gift unter die Haut und Lächeln mit aufgeschwollenen Lippen. Teenagerkleidchen zu krampfgeäderten Beinen. College-T-Shirts über Seniorenranzen. Nein, das wird kein Plädoyer für Rückzug und Resignation, für zahnloses Sich-Aufgeben in Trauerklamotten, für verzagte Anspruchslosigkeit und ergebenes Warten auf den Tod, keineswegs.
Aber nicht ständig optimistisch und furchtlos sein zu sollen, wäre eine angenehme Option. Angst haben zu dürfen. Sie zugeben zu dürfen. Müde und grantig sein zu können, ohne angehalten zu werden, sich gefälligst am Vorbild ausgeflippte Alte zu orientieren, die in High Heels tanzt und Champagnerkorken knallen lässt. Weil: dem Gefühl nach sind wir mit 90 – oder mit 80 oder mit 70 – vielleicht erst Mitte 30, aber der Verstand konfrontiert uns gnadenlos mit der Realität. Solange wir ihn haben. Verlangt nicht, dass wir ihn freiwillig ausschalten. Denn das ist unsere größte Furcht: dass er uns verlässt.