Elfriede Hammerl: Opferfeeling
Mimi ist so wehleidig. Kaum wird ihr das Geldbörsel gestohlen, will sie auch schon eine Diebstahlsanzeige machen. Jetzt fühl dich doch nicht gleich als Opfer, Mimi!, sagen wir streng. Opfer sind hässlich und armselig. Willst du das sein? Ich fühle mich nicht als Opfer, ich bin gerade ein Opfer, nämlich das Opfer eines Diebstahls, sagt Mimi. Unsinn, du willst Mitleid schinden, korrigieren wir streng. Ich verdiene Mitleid, sagt Mimi. Ich habe einen Schaden erlitten. Ist dir das nicht peinlich?, fragen wir. Bemitleidet zu werden? Sei lieber stark und selbstbewusst. Bin ich. Aber mein Geldbörsel ist weg. Bist du dir sicher? Vielleicht hast du etwas missverstanden. Nein. Kann es sein, dass du übertreibst? Nein. Na ja, das ist jetzt deine subjektive Sicht – Nein, mein Geldbörsel ist objektiv weg, seit ich im Autobus von diesem Mann angerempelt wurde. Und deswegen fühlst du dich als Opfer? Nennt es, wie ihr wollt, Herrgott. Ich fühle mich jedenfalls nicht, als hätte ich kein Geldbörsel, sondern es ist so. Keine Einbildung. Ihr tut ja so, als würde ich bloß herumzicken. Eigentlich ist sie schon eine Zimperliese, finden wir im Stillen und sagen laut: Mit dieser passiven Opferhaltung machst du es dir zu einfach, Mimi. Darauf sie: Ich bin nicht passiv, ich gehe ja zur Polizei. Wir verdrehen die Augen. Jetzt ist es ein bisschen spät. Warum hast du den Mann nicht einfach zur Rede gestellt, als er dich angerempelt hat? Ihn geohrfeigt? Ihm dein Geldbörsel wieder abgenommen? Ich war so überrascht, behauptet sie. Das glaube, wer will, denken wir. Dann versuchen wir es mit gutem Zureden. Mimi, sagen wir, du schießt, wie so oft, übers Ziel hinaus. Jetzt denk doch einmal nach. Was, wenn der Dieb gefasst wird? Er kriegt eine Strafe aufgebrummt, verliert womöglich seinen Job, falls er einen hat, ist kriminalisiert – kurzum, du vernichtest seine Reputation, seine wirtschaftliche Existenz, und das alles wegen deines lächerlichen Geldbörsels, wo wahrscheinlich eh kein Geld drin war. Mimi will etwas sagen, aber wir lassen sie nicht zu Wort kommen. Weißt du, was du mit deiner Hysterie anrichtest, Mimi?, fragen wir sie eindringlich. Wenn es Schule macht, dass Frauen wegen eines bisschen Geldbörselfladerns gleich die Gesetzeshüter bemühen, dann traut sich doch in Zukunft kein Mann mehr, einer Frau die Hand zu geben, weil er befürchten muss, dass sie ihn wegen Taschendiebstahls anzeigt. Sie lässt nicht locker. Ich kann doch unterscheiden, ob mir einer die Hand schütteln oder mir mein Geldbörsel aus der Tasche ziehen will!, behauptet sie. Wer redet von dir?, kontern wir. Der arme verunsicherte Mann kann’s nicht unterscheiden, das ist das Problem. Ihr meint, er stiehlt mir die Brieftasche und glaubt, er gibt mir die Hand?, fragt Mimi. Hör zu, sagen wir. Dir das Geldbörsel zu stehlen, ist ja vielleicht ein flegelhaftes Verhalten, aber deswegen ist es doch nicht kriminell. Doch, ist es, beharrt Mimi. Sie ist so stur. Mein Gott, sagen wir, jetzt krieg dich doch ein! Hat dich der Dieb an Leib oder Leben bedroht? Nein. Na eben. Warum regst du dich dann auf? Solange er dich nicht gewürgt hat, um an dein Geldbörsel zu kommen, musst du nicht Fasst den Dieb! schreien. Wenn er mich gewürgt hätte, würde ich Fasst den Räuber! schreien. Dann ginge es nämlich um einen Raubüberfall und nicht um Diebstahl. Blödsinn, Mimi. Was kein Raubüberfall ist, ist auch kein Diebstahl. Genauso wie eine sexuelle Belästigung keine ist, solange sie nicht mindestens eine versuchte Vergewaltigung war. Wo habt ihr denn das wieder her? Aus den Zeitungen. Ohne physische Gewalt: keine Belästigung. Kannst du nachlesen. Gesundes Volksempfinden. Und jetzt mal ehrlich, Mimi, niemand weiß, was wirklich passiert ist. Doch, ich!, schreit Mimi. Es gibt keine Zeugen, fahren wir unbeirrt fort, niemand war dabei – Doch, ich!, schreit Mimi. – deswegen ist in unseren Augen nichts passiert, solange nicht eindeutige Beweise vorliegen, sagen wir energisch. Und fügen hinzu: Willst du bestreiten, dass es auch Frauen gibt, die Taschendieben ihr Geldbörsel geradezu aufdrängen? Wenn sie’s ihm schenken, ist es kein Diebstahl, erwidert Mimi. Aber wenn sie es ihm geben, weil er mit einer Pistole auf sie zielt, ist es kein Geschenk. Vielleicht doch, wenden wir ein. Sie wollen sich halt mit einem Mächtigen arrangieren. Das kommt vor. Sie wollen ihn für sich gewinnen. Wahrscheinlich hatte der Dieb den Eindruck, dass du ihm dein Börsel schenken willst. Wieso?, fragt Mimi. Es war in meiner Handtasche. Ein merkwürdiger Aufbewahrungsort, findest du nicht? Mimi ist schmähstad. Das erhärtet unseren Verdacht, dass sie bloß ein Werkzeug ist. Jemand benützt sie, um dem angeblichen Dieb was anzuhängen. Machen wir uns nichts vor, die Welt ist schlecht.
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