Elfriede Hammerl: Paris mit Apfel
Ein älterer Mann und eine alte Frau sitzen in einem Schanigarten. Der ältere Mann und die alte Frau sind etwa gleich alt, aber der ältere Mann sieht sich keinesfalls als alter Mann, hat er sich doch noch nicht einmal richtig daran gewöhnt, als älter zu gelten. Am Nebentisch sitzt ein fesches junges Mädchen. Der ältere Mann mustert es anerkennend und sagt etwas, aus dem hervorgeht, dass er nichts dagegen hätte, mit dieser jungen Frau in eine irgendwie amouröse Situation zu geraten.
Die Frau in seiner Gesellschaft, eine alte Freundin, fragt streng: Ist das dein Ernst?
Na ja, sagt er, was heißt Ernst? Ich werde sie nicht anbaggern.
Das hoffe ich aber!, sagt die Frau.
Er schaut erstaunt. Was ist dein Problem?
Er hat ja recht. Wo ist das Problem? Er ist rechtschaffen und anständig. Alles, was er tut, ist, sich einer kleinen Fantasie hinzugeben. Er baggert das Mädchen, das seine späte Tochter oder seine frühe Enkelin sein könnte, nicht an.
Er belästigt sie nicht. Er stellt keine Gefahr für sie dar.
Aber er sieht sie als mögliche Sexualpartnerin, und er schließt nicht aus, dass sie ihn ebenfalls als möglichen Sexualpartner sehen könnte. Unter bestimmten Umständen. Wenn er es darauf anlegte. Wenn er seine Stärken auszuspielen Gelegenheit bekäme.
Dein Ernst?, fragt die Frau noch einmal.
Deine Fragerei hat langsam etwas Beleidigendes, antwortet er.
Ich bin nur verwundert, sagt die Frau. Warum sollte sie dich begehrenswert finden?
Warum nicht?
Weil du ihr Großvater sein könntest.
Er zuckt bei dem Wort „Großvater“ zusammen, fasst sich aber tapfer und erwidert: Ja, und? Es gibt junge Frauen auf der Suche nach … Vaterfiguren.
Du siehst dich als Vaterfigur?, fragt die Frau.
Unter Umständen …
Du siehst dich als Vaterfigur, die aber in jungen Frauen keine Tochterfigur sieht?
Das bringt ihn ein bisschen aus dem Konzept, doch nur kurz. Mein Gott, sagt er gereizt. Was ist so schlimm daran?
Die Selbstverständlichkeit, mit der du dir quasi inzestuöse Begehrlichkeiten herausnimmst, sagt die Frau.
Das geht ihm jetzt zu weit. Da muss er zurückschlagen. Scharf fragt er: Was ist mit dir? Bist du eifersüchtig?
Das ist nämlich seine einzige Erklärung: Wenn es ihr missfällt, dass er eine andere begehrlich anschaut, dann spricht Eifersucht aus ihr, auch wenn sie und er gar kein Paar sind. So sind s’, die Weiber, seiner Vorstellung nach. Missgünstige Spinatwachteln, die es nicht ertragen, wenn ihnen eine Junge – und sei es auch nur in Gedanken – vorgezogen wird.
Ich bin nicht eifersüchtig, sagt sie, ich bin nur verblüfft.
Keine mir bekannte Frau über 70 würde davon ausgehen, dass sie für einen 18-Jährigen als Objekt der Begierde infrage kommt. Keine mir bekannte Frau über 70 mustert 18-jährige Burschen mit den Augen einer Preisrichterin, die den Hauptpreis – zumindest in Gedanken – für sich reserviert.
Bist du neidisch?, fragt er. So gönn mir doch die Illusion.
Ich frage mich nur, sagt sie sinnierend, woher diese vermeintliche Berechtigung kommt, als Mann zeitlebens Frauen jeden Alters als potenzielle Sexualpartnerin betrachten zu dürfen? Was, wenn es nicht bei der Illusion bleibt? Wie weit ist es von diesem Anspruchsdenken bis zu einem Verhalten, das dann doch nicht ganz so harmlos ist?
Auch Bill Cosby war ein netter älterer Mann, vermeintlich ungefährlich, der anscheinend bis heute nicht einsieht, was falsch daran ist, wenn ein Kerl …
Vergleichst du mich mit Bill Cosby?, fragt der Mann empört.
Nein, sagt sie, ich sage nicht, du bist eine Art Bill Cosby, aber ich vermute, die Bill Cosbys sind diejenigen, die keinen großen Unterschied sehen. Sie begnügen sich nicht mit der Illusion und denken, das sei ganz normal, denn sie glauben, dass jeder seine Illusionen ausleben würde, wenn er nur könnte.
Ja, und?, fragt der Mann zornig. Ich bin nicht verantwortlich für alte Trottel, die nicht unterscheiden können zwischen Fantasie und Wirklichkeit.
Es wäre mir wohler, wenn deine Fantasien eine Altersgrenze hätten. Warum siehst du in einer, die deine Enkelin sein könnte, nicht einfach ein hübsches Mädchen und basta?
Weil sie kein Kind ist. Sie sieht aus wie eine erwachsene Frau, und so sehe ich sie.
Erwachsene Frauen wecken in dir erotische Assoziationen?
Sofern sie fesch sind. Ja.
Was ist mit gleichaltrigen Frauen?
Sofern sie fesch sind. Ja.
Lass mich raten: Du findest sie selten fesch?
Nicht so häufig. Aber wenn es dich beruhigt: Ich finde auch die jüngeren nicht alle fesch.
Hm. Schaust du dich gelegentlich in den Spiegel?
Ja.
Und wie findest du dich?
Nicht unattraktiv.
Du hast recht, sagt die Frau, ich beneide dich.
Weißt du, sagt der Mann, du musst den historischen Hintergrund sehen. Wir sind Paris. Der mit dem Apfel. Wir stehen da und schauen und beurteilen und entscheiden dann, wem wir ihn geben. Das ist unsere Rolle. Seit jeher.
Die Frau lächelt.
Was erheitert dich?, fragt der Mann.
Ich stelle mir vor, sagt die Frau, wie du bei einer 20-Jährigen ankommst, wenn du ihr sagst, dass du Paris mit dem Apfel bist.