Stimmungsaufheller
Die Frau ist deprimiert. Jetzt sei doch nicht so depressiv, sagen die anderen zu ihr, womit sie zweifach falschliegen, denn erstens ist die Frau nicht depressiv im Sinne einer dem Willen entzogenen biochemischen Reaktion ihres Körpers, und zweitens könnte sie, wenn sie depressiv wäre, diesen Zustand eben genau deswegen nicht durch einen Willensakt beenden. Ist aber wurscht, weil eh niemand sprachliche Präzision für erstrebenswert hält, weshalb depressiv schon lang als Synonym für deprimiert oder deprimierend gilt („Was für ein depressives Wetter!“, sagen die Leute), und zudem, weil ja die Frau gar nicht pathologisch verzweifelt ist, sondern niedergedrückt aus guten Gründen. Diese guten Gründe soll sie aber bitte gefälligst für sich behalten. Oder zu Menschen tragen, die sich so was von Berufs wegen anhören, die sind schließlich dafür ausgebildet. Und natürlich kosten die Geld, sollen sie umsonst zuhören? Die Frau sagt, sie kann es sich nicht leisten, jemanden zu bezahlen, damit sie ihm oder ihr erzählen darf, dass sie kein Geld hat. Mag sein, aber wer will das so genau wissen?
Ja, die Zeiten sind hart, die Preise hoch, die Mieten horrend und die Gehälter niedrig. Weiß man, kennt man, kann man nix dagegen machen. Wir haben es alle nicht leicht, manche von uns können sich heuer nicht einmal einen zweiten Urlaub leisten. Und wenn doch, dann höchstens in Dalmatien und nicht auf Mauritius.
Die Frau ist so entsetzlich stur. Wozu hat die Pharmazie denn Stimmungsaufheller erfunden, wenn nicht zu dem Zweck, das Unabänderliche zu ertragen? Bestimmt bekäme sie Stimmungsaufheller verschrieben, wenn sie wollte, aber nein, sie will gar nicht. Sie möchte nicht in eine künstlich aufgehellte Stimmung kommen, sagt sie, sie möchte echte Gründe haben, guter Laune zu sein.
Was stellst du dir vor?, fragen die anderen, und sie sagt: mehr Einkommen, nicht so viel Arbeit, einen gesicherten Unterhalt fürs Kind und einen Platz in einer guten Ganztagsschule, eine Wohnungsmiete, die nicht mehr als die Hälfte von meinem Monatslohn wegfrisst, Lebensmittel, die ich mir leisten kann, finanzielle Reserven für den Fall, dass der Kühlschrank eingeht. Dass das Kind eine Kindergeburtstagsparty schmeißen kann. Dass wir im Sommer ans Meer fahren können. Zum Beispiel.
Na geh, so viele Wünsche! Wer soll die erfüllen? Genau wegen dieser nicht beantwortbaren Frage wäre es besser, sie wäre depressiv statt deprimiert, Tabletten sind leichter aufgetrieben als günstige Wohnungen.
Sag, weißt du denn nicht, wie gut du es hast?, fragen die anderen.
Sag, weißt du denn nicht, wie gut du es hast?, fragen die anderen. Du lebst in einem der reichsten Länder der Welt! Du lebst in einem Wohlfahrtsstaat, der seinesgleichen sucht! Du lebst in einem Land, in dem Schulen, Unis und die medizinische Versorgung kostenlos sind! In einem Land, in dem es sich für manche mehr auszahlt, arbeitslos zu sein und ein bisschen was dazuzuverdienen, als normal arbeiten zu gehen! Lies doch mal nach, das alles hat die Frau Verfassungsministerin auf Twitter geschrieben!
Die Frau sagt, sie geht ihr ganzes Erwachsenenleben lang arbeiten, aber es wird immer schwerer für sie, halbwegs normal vom Ertrag ihrer Arbeit zu leben, es sei denn, „normal“ heiße, dass man allmonatlich bangen muss, ob es sich mit dem Geld ausgehen wird bis zum nächsten Ersten. Die Frau sagt, sie findet es einigermaßen sonderbar, den Wohlfahrtsstaat als Tummelplatz der Schlitzohren zu sehen. Wer sagt, dass die Schlitzohren eine Ausgeburt der Arbeitslosenversicherung sind, vielleicht tummeln sie sich ja in ganz anderen Biotopen?
Die Frau sagt, sie weiß, dass es vielen Menschen anderswo viel schlechter geht, trotzdem sei es für Arme wenig Trost, arm zu sein in einem der reichsten Länder auf der Welt. Und übrigens sei die Nachmittagsbetreuung in der Schule vom Kind keineswegs kostenlos.
Was das Medizinische anlangt, so fühlte sich die Frau bis vor einiger Zeit tatsächlich gut versorgt. Aber dann wurde aus der Kassenpraxis der Kinderärztin eine Wahlarztordination, der Hautarzt ging in Pension, und kein anderer in erreichbarer Entfernung nahm neue Patient:innen auf. Beim HNO-Arzt bekam sie trotz akuter Beschwerden erst einen Termin in drei Monaten, und die notwendige Zahnregulierung des Kindes gibt es nur für viel Geld.
Die Frau ist auch darum deprimiert, und es ärgert sie, wenn sie zu hören bekommt, „die Leute“ sollten halt weniger Geld in neue Handys und mehr in ihre Gesundheit investieren, weil sie zu den Leuten mit einem alten Handy gehört, die sich andererseits anhören müssen, dass sie mit ihrem vorsintflutlichen elektronischen Equipment schändlich die Digitalisierung verpassen.
Die Frau ist eine der vielen, die sich jetzt etwas von der linken Aufbruchsstimmung im Land versprechen. Sie glaubt, dass es eine Aufgabe der Politik sei, sich um sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie ein halbwegs gutes Leben führen kann. Das trägt ihr die Verachtung mancher Vordenker ein, die soziale Utopien als Suppenküchen- und Wärmestubenpolitik abqualifizieren. Aber die Frau sagt: Endlich ein richtiger Stimmungsaufheller. Kann man irgendwie verstehen, oder?