Strafmündig
Jugendliche, Kinder noch, begehen schwere Verbrechen. Eine Gruppe Burschen, darunter Zwölfjährige, misshandelt über Wochen ein ebenfalls zwölfjähriges Mädchen durch sexuelle Gewalt. Jugendliche Banden terrorisieren Stadtviertel. In Wien wird ein junger Mann niedergestochen, als er einer von Burschen belästigten Frau zu Hilfe kommt. Was tun?
Der Bundeskanzler präsentiert ein einfaches Rezept: Wir senken die Strafmündigkeit. Künftig bestrafen wir schon die Zwölfjährigen nach dem Erwachsenenstrafrecht. Und ÖVP-Politiker:innen fügen hinzu: Offensichtlich seien Heranwachsende heutzutage früher „reif“. Soll heißen: Wer „erwachsene“ Straftaten begehe, den müsse das Gesetz auch wie einen Erwachsenen behandeln.
Die Vergewaltigung von Minderjährigen ein Zeichen von „Reife“? Ein Zwölf- oder Dreizehnjähriger, der ein derart brutales Verbrechen begeht, ist nicht „reif“, sondern geistig, seelisch und moralisch schwer verwahrlost. Dass er im Gefängnis, unter kriminellen Erwachsenen, den moralischen Kompass bekommt, der ihm fehlt, ist allerdings zu bezweifeln. Nein, das ist kein Plädoyer für Milde und Nachsicht. Das ist, im Gegenteil, eine Aufforderung zu genauem Hinschauen und entsprechenden Schlussfolgerungen.
Was verwahrlosten Jugendlichen fehlt, ist Erziehung. Erziehung kommt ohne Sanktionen nicht aus, aber Sanktionen ohne Erziehung haben keine anhaltende Wirkung. Erziehung bedeutet auch die Erfahrung, dass das Einhalten von Regeln etwas bringt, dass ein rücksichtsvolles Miteinander das Leben angenehmer macht. Fatal, wenn Kinder das Gegenteil gelernt haben: Rücksichtslosigkeit gewinnt. Wer zuschlägt, signalisiert, dass er sich nicht schlagen lässt. Wer stiehlt, vermehrt sein Eigentum. Wer lügt, kommt um unangenehme Wahrheiten herum. Wer kein Erbarmen zeigt, kriegt Respekt. Wenn diese Art von Sozialisierung einmal gegriffen hat, ist es schwer, ihr entgegenzuwirken. Einschüchterung durch bloße Staatsgewalt wird nicht ausreichen, um derlei soziale Deformationen geradezubiegen.
Die Idee, heranwachsende Menschen nicht als ausgereifte Bösewichte zu sehen, war ein Fortschritt gegenüber Zeiten, in denen Kinder bestraft wurden wie Erwachsene, egal ob sie die Schwere ihrer Vergehen begreifen konnten oder nicht. Weil sich das Rezept „Kinder in den Kerker“ aber nicht wirklich bewährt hat, wurde die Jugendgerichtsbarkeit von der für Erwachsene getrennt. Dahinter steckte nicht zuletzt die Absicht, die weitere Entwicklung jugendlicher Straftäter positiv zu beeinflussen, in der Hoffnung, dass sie noch formbar sind. Bis vor etwas mehr als 20 Jahren gab es dazu in Österreich einen eigenen Jugendgerichtshof, der gute Arbeit geleistet hat. Die damalige schwarz-blaue Regierung hat ihn jedoch abgeschafft.
Die grundsätzliche Frage, wie wir straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen begegnen sollen, bleibt. Sollen wir sie aufgeben und wegräumen als sozialen Bodensatz, bei dem eh schon Hopfen und Malz verloren ist? Oder an ihre Sozialisierung glauben? Und wenn ja, wie können sie sozialisiert werden? Und wie gehen wir mit dem Faktum um, dass es sinnlos ist, den Eltern die Schuld zuzuschieben, wenn schon die Eltern nicht gelernt haben, was Verantwortung ist? Sie zu verurteilen, bringt nichts. Manchmal genügt es, sie zu unterstützen, aber manchmal muss man die Kinder auch vor ihnen beschützen.
Entscheidend ist wohl der Zeitpunkt eines möglichen Eingreifens. Und entscheidend ist, wie eingegriffen wird. Erfolgreiche Erziehung ist an verlässliche Bezugspersonen geknüpft, die vermitteln und vorleben, dass man Regeln einhält, dass man andere respektiert, dass Hauen und Stechen kein befriedigendes Konzept ist. Wo nehmen wir diese Bezugspersonen her, wenn Eltern, aus welchen Gründen auch immer, auslassen? Keine noch so bemühte institutionelle Betreuung kann einem Fünfjährigen die Mama ersetzen, zu der er ins Bett kriecht, wenn ihn Alpträume plagen. Wenn er Glück hat, findet er liebevolle Pflegeeltern. Wenn er Pech hat, kriegt er früh die ganze Schwere des Gesetzes zu spüren, sobald wir Defizite durch Defizite bekämpfen.
Nein, zwölfjährige Vergewaltiger sind keine armen Opfer, die man mit Samthandschuhen anfassen soll. Sie sind eine Gefahr. Und sie sind an einem Punkt ihrer schiefgelaufenen Entwicklung angelangt, wo Korrekturen nicht mehr leicht sind. Trotzdem wird man versuchen müssen, ihnen zu vermitteln, was ihnen offensichtlich fehlt: einen Moralkodex und eine daraus resultierende Schuldeinsicht. Strenge Erziehung statt bloß strengerer Strafen. Im allgemeinen Interesse.
Und jetzt etwas ganz Wichtiges: Verwahrlosung hat keine genderneutralen Folgen. Verwahrloste Mädchen lügen, stehlen und schlagen, aber sie vergewaltigen nicht und greifen selten zum Messer. Stattdessen werden sie oft Opfer frauenverachtender Burschen, weil sie – in einem frauenverachtenden Umfeld – ihren Selbstwert in der Zugehörigkeit zu einem Mann suchen. Das ist keine Schuldzuweisung an die Opfer. Schuld ist die internalisierte Geringschätzung von Frauen, die in bestimmten Milieus besonders massiv ist. Dazu das nächste Mal mehr.