Elfriede Hammerl: Überleben lassen
Ich bin alt, und wenn ich Corona kriege und ein Arzt steht vor der Wahl, mich zu beatmen oder einen jüngeren Menschen, dann soll er den jüngeren Menschen retten. Das ist allgemeiner Konsens. Ich sehe ihn ein. Nur: Muss ich dann ersticken? Das passiert nämlich mit Menschen, die beatmet werden müssten und nicht beatmet werden.
Ich weiß, dass ich sterblich bin und dass mein Ablaufdatum unausweichlich näher rückt. Diese Erkenntnis ist nicht vergnüglich, anfangs revoltiert man dagegen und glaubt, dass die Vorsehung verpflichtet wäre, einem die Zeit zur Verfügung zu stellen, die man zur Realisierung aller noch unerledigten Vorhaben braucht, aber nach und nach stellt sich ein gewisses Maß an fatalistischer, in gewisser Weise sogar fröhlicher Resignation ein. Es kommt, wie es kommt. Bei mir zumindest ist es so. Ich akzeptiere also, dass ich Nachrang habe, wenn es um die Rettung von Leben geht, weil ich eh schon viele Jahre leben durfte und weil ich mich statistisch gesehen keine weiteren 25 Jahre nützlich machen werde. Ist vielleicht ein bisschen utilitaristisch argumentiert, doch ich verstehe die Prioritäten.
Aber ich möchte nicht ersticken. Ich möchte nicht verrecken. Ich möchte nicht elend zugrunde gehen. Ich möchte, wenn es mit mir zu Ende geht, umsorgt werden, gepflegt werden, getröstet werden, mit Schmerzmitteln vollgepumpt und beatmet werden , wenn ich Schmerzmittel und Sauerstoff brauche. Kein ungewöhnlicher Wunsch. Wir haben ihn alle. Aber wer wird ihn uns erfüllen, wenn das Gesundheitssystem am Limit ist? Schon bisher war der Bedarf an Palliativpflege größer als die Angebote.
Man kann sich ausmalen, wie viel Ressourcen dafür bleiben, wenn es einmal drunter und drüber geht.
Das macht Angst. Das macht allen Angst, doch Hinweise darauf, dass man zu einer Zielgruppe gehört, die im Bedarfsfall als Erstes abgeworfen werden wird wie Ballast, machen sie ein Stück größer.
Corona verläuft glimpflich bei den Jungen. Bei den Gesunden. Bei den gesunden Alten. Das sagen sich die jungen Gesunden und die halbwegs gesunden Alten zur Beruhigung. Die kranken Jungen und die kranken Alten sind nicht bloß beunruhigt, sie fühlen sich auch verletzt. Was soll denn das heißen: „Es sterben eh nur …“? Dass sie verkraftbare Verluste sind? Verkraftbar, na gut, vielleicht nicht für ihre Angehörigen, aber verkraftbar für die Gesellschaft, die Wirtschaft, den Fortschritt?
Ich habe gehofft und hoffe noch immer, dass sich alle Verantwortlichen mit aller Kraft den Kopf darüber zerbrechen.
Zur Tatsache, dass sich Corona in Italien so vehement ausgebreitet hat und dass es so viele Todesfälle gibt, kursieren zwei Thesen. Erstens: Die italienische Modeindustrie beschäftigt massenhaft illegale ArbeiterInnen aus Fernost, vor allem aus China, die vom Gesundheitssystem nicht erfasst und nicht behandelt wurden, weil sie im Untergrund leben.
Und zweitens: In Italien ist es schon so weit, dass die moribunden Alten nur mangelversorgt werden können. Klingt leider nicht gänzlich unwahrscheinlich. Und stimmt sorgenvoll.
Was klagst du an?, fragt mich ein Freund. Dass nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen? Und welche Lösung schlägst du vor?
Ich weiß nicht, ob „nicht genügend“ Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen, weil ich nicht weiß, wie viele zur Verfügung stehen müssten, damit wir für Notfälle gerüstet sind, und in gewisser Weise verstehe ich auch, dass schwer abzusehen ist, was in welcher Menge bei Pandemien vorhanden sein muss, weil sich deren spezielle Erfordernisse ja vorher nicht ankündigen.
Aber ich habe gehofft und hoffe noch immer, dass sich alle Verantwortlichen mit aller Kraft den Kopf darüber zerbrechen.
Sie sind es, die Lösungen finden müssen, und sie sollen dabei gefälligst nicht davon ausgehen, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, deren Verlust halt in Kauf genommen werden muss. Das möchte ich. Und ich wünsche mir, dass die gesunden Jungen nicht in den Survival-of-the-Fittest-Modus gehen, sondern bedenken, dass das, was sie für die natürliche Auslese halten, auch Menschen treffen könnte, die ihnen nahestehen und wichtig sind.
Zum Trost finden sich in den sozialen Medien auch viele Wortmeldungen, die zu Solidarität mit den Schwachen und Alten aufrufen und dazu, ihnen praktisch zu helfen, also beispielsweise für Eltern, Großeltern und NachbarInnen einzukaufen, um ihre Ansteckungsgefahr zu minimieren.
Was freilich auf einen gewissen Widerstand seitens der Großeltern etc. treffen wird. Denn wir alle,die wir nicht mehr jung sind, neigen dazu, zu sagen: Also bitte, ich bin zwar alt, aber doch nicht sooo alt! Unsere Selbstständigkeit ist uns wichtig, jedenfalls den meisten von uns. Jedoch, wie wenig es uns auch freut, wir werden einsehen müssen, dass wir vorsichtiger zu sein haben, wenn wir zu einer gefährdeten Gruppe gehören.
Das heißt freilich keinesfalls, dass wir, falls wir doch erkranken, selber schuld sind. Und es heißt schon gar nicht, dass wir, weil wir angeblich selber schuld sind, schlecht behandelt werden dürfen. Krank zu werden, ist kein Versagen. Und Gesundheit ist kein Verdienst.
[email protected] www.elfriede.hammerl.com