Wer entscheidet kompetenter – die Sachverständigen oder das Jugendamt?

Elfriede Hammerl: Unter Beobachtung

Unter Beobachtung

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Schon wieder so eine Geschichte. Die Frau Doktor*, sagt der Leiter des Jugendamts, sei halt eine Gute. Manchmal käme sie ihm direkt ein bisschen weltfremd vor in ihrem Bemühen, allen gerecht zu werden. Das sieht die Gerichtsgutachterin anders. Ihrer Beschreibung nach ist die Frau Doktor, die im Gerichtsakt KM, also Kindesmutter, heißt, eine manipulative, dramatisierende Person, vor deren schädlichem Einfluss das Kind geschützt werden müsse. Oder eigentlich der Kindesvater. Denn gegen den nehme die KM das Kind ein, und das wird jetzt unterbunden, indem Mutter und Tochter nur noch zwei Stunden in der Woche zusammenkommen dürfen, die Tochter in Begleitung einer Psychologin, die die Mutter-Kind-Gespräche protokolliert und eingreift, wenn die Mutter etwas sagt, was ihr suspekt, also gegen den Vater gerichtet, vorkommt.

Im Jugendamt kann man eine Gefährdung des Kindes durch die Mutter nicht sehen, vielmehr habe man Sorge, wenn das Kind weiterhin beim Vater bleibe, der eine symbiotische Paarbeziehung mit der Neunjährigen lebe und jede Selbstständigkeit des Kindes unterbinde. Für das Jugendamt hat das Kind über einen längeren Zeitraum deutlich gemacht, was es will, nämlich bei der Mutter leben und den Vater regelmäßig sehen. Für die letzte Gutachterin hingegen hat das Kind nicht gezeigt, dass es sich beim Vater nicht wohlfühlt, obwohl es dazu mehrfach Gelegenheit gehabt hätte. (Soll heißen, das Kind stellte sich in Gegenwart der Gutachterin und des Vaters nicht explizit gegen den Vater.) Das Kind sage zwar, es wolle bei der KM sein, räumt die Gutachterin ein, es sei aber davon auszugehen, dass die KM das Kind kontinuierlich gegen den KV beeinflusst hat.

Die Vorgeschichte ist turbulent. Das Kind nach der Trennung mal bei diesem, mal bei jenem Elternteil, schließlich kriegt der Vater die Obsorge zugesprochen. Das erste Gutachten, das dieser Entscheidung zugrunde liegt, attestiert der Mutter volle Erziehungsfähigkeit, es wird allerdings vermerkt, dass sie sich beim Spielen mit dem Kind nicht auf den Boden setzen konnte. (Die Mutter hat Multiple Sklerose, ihre physische Beeinträchtigung hält sich jedoch in Grenzen.) Das Persönlichkeitsbild der Mutter wird als leicht depressiv beschrieben, das des Vaters als störanfällig, mit herabgesetzter Kritikfähigkeit, was das eigene Verhalten betrifft. Es gebe bei ihm Hinweise auf Schwierigkeiten in der Beziehung zur eigenen Sexualität und Schwierigkeiten im Umgang mit eigenen, auch aggressiven Impulsen.

Zudem wird festgestellt, dass die Mutter Kontakte mit dem Vater unterstützen würde, sollte das Kind ihr zugesprochen werden, während der Vater sich für den umgekehrten Fall bedeckt halte. Trotzdem fällt die anschließende Empfehlung zugunsten des Vaters aus. Es zeige sich nämlich ein intensiverer, spielerischer und verbaler Austausch zwischen dem Kind und dem Vater, das Kind weise demnach eine Bindungspräferenz hinsichtlich des Vaters auf.

Ach, diese Gutachten. Für ein schlichtes Gemüt würde sich der intensivere spielerische und verbale Austausch zwischen Vater und Kind (so er tatsächlich intensiver war) einfach dadurch erklären, dass beim beobachteten Spielen vor der Gutachterin erst die Mutter, dann der Vater dran war, dass das Kind also, nach anfänglicher Scheu in der ungewohnten Situation, später wahrscheinlich aufgetaut ist.

Gutachtende sammeln akribisch eventuelles Belastungsmaterial. Alles spielt eine Rolle: wie die Mutter geschaut hat, wie der Vater geschaut hat, dass die Mutter ein Fläschchen für das damalige Kleinkind (Überfürsorge?) mitgehabt hat, wie die Mutter geredet hat, wie der Vater geredet hat. Man würde nicht begutachtet werden wollen, wenn man sich’s aussuchen könnte. Wer weiß, wie man unter strenger Beobachtung agieren und wie einem die Aufregung dabei – ob man sie zeigt oder nicht – ausgelegt würde.

Die Unfehlbarkeit dieser Momentaufnahmen von Menschen statt Mäusen relativiert sich allerdings durch die Tatsache, dass es zu den Gutachten häufig Gegengutachten gibt, ebenfalls streng wissenschaftlich erstellt, die ihrerseits glaubwürdig erläutern, warum Gutachten eins oder zwei oder drei so nicht stimmen kann. Wem glaubt man als Richterin oder Richter? Für gewöhnlich gelten die Befunde und Empfehlungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen als entscheidend, private Gegengutachten werden nicht beachtet. Und auch den Aussagen der Jugendwohlfahrt wird meist weniger Bedeutung beigemessen als den Empfehlungen der GutachterInnen.
Was fragwürdig ist, wie der eingangs zitierte Jugendamtsleiter meint.

SozialarbeiterInnen hätten Einblick in den Alltag der Betroffenen und meist ein umfassenderes Bild von ihnen als die Psycho-TesterInnen. Er verweist auf Deutschland, wo Sachverständige und Jugendämter angehalten seien, gemeinsam nach einer Lösung zu suchen und den Gerichten Empfehlungen anzubieten. Scheint ein vernünftiger Vorschlag angesichts der sich häufenden Klagen und Beschwerden über oft schwer nachvollziehbare Obsorgeentscheidungen in Österreich. Wer greift ihn auf?

* Die Namen aller Beteiligten sind der Redaktion bekannt.

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