Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Verbotsgesellschaft?

Verbotsgesellschaft?

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Neulich, wieder einmal, in meinem Auto: Ich nehme ­einen mir bekannten Menschen mit, und er verweigert das Anschnallen. Sein freiheitsliebender Geist lehnt sich dagegen auf, dass er sich von einem Sicherheitsgurt einengen lassen soll. Feiges Sicherheitsdenken ist ihm fremd. No risk no fun.

Das stört allerdings nicht nur mich, sondern auch mein Auto, das sogleich schrill und unaufhörlich protestiert. „Häng dich endlich an!“, schreie ich. Seufzend kapituliert er vor dem doppelten Gebrüll, allerdings nicht, ohne mich zu fragen, wie ich es ertragen könne, mich von einem Auto unterjochen zu lassen. Es folgt ein längerer Sermon über unsere grässliche Verbotsgesellschaft. Entmündigung der Bürger („und Bürgerinnen“ sagt er nicht, weil er sich selbstverständlich auch keine gendergerechte Sprache anschaffen lässt), Einschränkung der persönlichen Freiheit, Genussfeindlichkeit…

Ich werfe ein, dass ich nicht an seiner Stelle sein möchte, wenn das Nicht-Anschnallen im Auto bereits einen nennenswerten Genuss für ihn darstellt.
Ja, eh klar, er hat sich aufs Rauchen bezogen. Warum darf sich der Mensch nicht durch Rauchen umbringen, wenn er das will?

Darf er doch, sage ich, aber warum soll er mich umbringen dürfen, weil er mich zwingt, mitzurauchen?

Und so weiter. Eine fruchtlose Diskussion, ich kenne sie. Jeder – und jede – kennt sie inzwischen. Das Klagen über unsere angeblich so rigide Gesellschaft, die dem Einzelnen die Verantwortung für sich abnimmt, indem sie ihm nahelegt, beim Radfahren einen Helm zu tragen (statt Kinder selber herausfinden zu lassen, dass eine Kopfverletzung jetzt aber nicht so geil ist), halten ja nur noch diejenigen für originell, die diese Klagen absondern. Sie sehen sich als tiefsinnige Denker, die kühn den Zeitgeist gegen den Strich bürsten, und schwimmen doch längst im Mainstream mit. Aber was motiviert sie?

Zunächst einmal fällt auf, dass alle diese Freigeister, die angeblich nichts weniger können, als sich dem Mittelmaß und seinen kleinlichen Regeln anzupassen, in der ­Regel nicht durch Heldentaten auffallen. Reisen sie in Krisengebiete, um sich dort unangepasst den jeweiligen Unterdrückern entgegenzustellen? Das wieder nicht. Sie ver­passen sich lieber bequem ein nonkonformistisches Image, indem sie gegen Ernährungsratschläge, Geschwindigkeitsbeschränkungen oder nächtliche Lärmverbote wettern. Es sei, schreibt zum Beispiel David Signer, Schweizer Autor und Mitarbeiter der angesehenen „Neuen Zürcher Zeitung“, in seinem Pamphlet „Weniger Verbote! Mehr Genuss!“ (das der Haffmans-Verlag bewirbt, indem er die Freiheit zum Exzess propagiert), „höchste Zeit, die Sau rauszulassen – bevor sie stirbt“.

Dieser Schlusspointe geht die Schilderung einer angeblich überreglementierten Welt voran, in der als „potenzieller Mörder gebrandmarkt“ werde, wer „zwei Mal zu schnell gefahren“ sei, und wo „die Dämonisierung der Prostitution“ schon „so weit gediehen“ sei, dass sich in Frankreich „eine Frau, die in einem Minirock und mit Kondomen in der Handtasche an einer Bushaltestelle“ stehe, „potenziell strafbar“ mache.
„Dieses Pamphlet ist ein Genuss“, befanden die „Dresdner Neuesten Nachrichten“. Genuss ist halt, siehe oben, eine Definitionsfrage.
Aber offenbar treffen derlei Plädoyers für rücksichts­lose Unvernunft doch einen gewissen Nerv, sonst würde man ihnen nicht so häufig begegnen. Und das wiederum stimmt ärgerlich. Kann es sein, dass nicht unterschieden wird zwischen Aufrufen zu einem notwendigen Ungehorsam, zum Beispiel gegen menschenrechtegefährdende Gesetze oder Rechtspraktiken, und dem Propagieren uneinsichtigen Justament-Verhaltens? Die Wetterer gegen unsere angebliche Verbotskultur machen sich das Wohlwollen zunutze, das wir reflexhaft dem Begriff des zivilen Ungehorsams entgegenbringen, aber tatsächlich ist das, was sie ausrufen, das Gegenteil davon. Ziviler Ungehorsam stellt den Einsatz für Menschenrechte gegebenfalls über das persönliche Wohlbefinden, die Verbotsgegner stellen persönliche Bedürfnisse über alles andere.

Es gibt jedoch kein Menschenrecht auf Discosound bis zum Morgengrauen, darauf, andere vollzuqualmen, darauf, sturzbesoffen zu randalieren, darauf, das Leben anderer Verkehrsteilnehmer aufs Spiel zu setzen.

Zudem müsste doch gesehen werden, dass die Zwangsjacke, die uns angeblich alle einschnürt, im Großen und Ganzen ziemlich kommod ist. Niemand muss sich gesund ernähren. Niemand muss vernünftig leben. Wer will, kann saufen, pofeln, sich fett fressen, blöd bleiben, ungeschützten Sex mit unbekannten PartnerInnen haben. Dass selbstschädigendes Verhalten nicht gerade in der Verfassung verankert ist, müsste doch zu verschmerzen sein. Und dass die Freiheit des oder der Einzelnen dort endet, wo die der anderen beginnt, ist ein Grundsatz, der den meisten von uns nicht schadet, sondern nützt. Regellosigkeit bedeutet Faustrecht. Alle, die es ausrufen, sollten nachdenken, wie sie sich schlagen würden, wenn es in Kraft träte.
Aber der Sicherheitsgurt! Gefährdet es mich, wenn sich mein Beifahrer nicht anschnallt? Ja, mich und ihn, weil es mich verdammt noch einmal ablenkt, wenn ich ihn ungesichert neben mir weiß.

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