Entfreundet: Warum will Österreich nicht Teil einer 104-Staaten-Initiative sein?
Es ist ein unerwarteter und bestürzender Moment der Weltpolitik. Die USA gedemütigt, der neue Präsident Joe Biden unter Druck, die Taliban im Freudentaumel. Alle, die Amerika und den Westen hassen, jubeln. Wir werden zurückgeworfen an den Anfang dieser Geschichte, der Katastrophe vom 11. September 2001, und müssen uns viele unangenehme, schwierige Fragen stellen. Wir? Ja, wir, als Teil des Westens, der wir selbstverständlich sind. 9/11 wurde immer als Anschlag auf die freie Welt gesehen, und die freie Welt hat seither zwei Jahrzehnte lang mit vereinten Kräften (und vielen Irrtümern und Fehlern) versucht, einen neuen afghanischen Staat zu errichten. Auch Österreich beteiligte sich daran, mit nur einer Handvoll Soldaten zwar, doch entscheidend als Zeichen der Unterstützung einer gemeinsamen Mission der Staatengemeinschaft.
Und jetzt?
Die Rückkehr der Taliban-Herrschaft lässt dem Westen wenig Handlungsspielraum, doch eine Aufgabe ist wichtiger als alles andere: Zu beweisen, dass der Abzug kein Zeichen der Gleichgültigkeit gegenüber denen ist, die an den Westen geglaubt und an der Neugestaltung Afghanistans mitgearbeitet haben. Die USA und ihre Verbündeten sind für diese Afghaninnen und Afghanen verantwortlich. Sich um ihr weiteres Schicksal zu kümmern, folgt notwendig aus unserem Werte-Kanon: Der Schutz von Menschenrechten, körperlicher Unversehrtheit, Leib und Leben vor Verfolgung.
Deshalb hat das US-Außenministerium am 29. August eine Erklärung formuliert, die klarmacht, dass die USA und alle unterzeichnenden Staaten dieser Verpflichtung nachkommen. Darin heißt es unter anderem, dass „wir alle“ – die Unterzeichner-Staaten – dafür sorgen, dass „Afghanen, die mit uns gearbeitet haben, und jene, die gefährdet sind“, Afghanistan verlassen und „in unsere jeweiligen Länder“ reisen können. Diese Erklärung haben neben den USA 103 Staaten signiert.
Wer nicht? Österreich.
Das Dokument sieht keine Aufteilung von Flüchtlingen vor, keine fixen Zusagen von Kontingenten und schon gar keine (Selbst-)Verpflichtung, „alle“ Afghanen aufzunehmen. Es hält nur fest, dass „wir alle“ von den Taliban Verfolgten beistehen und sie „in unsere jeweiligen Länder“ reisen lassen.
Diese letzte Formulierung hält die ÖVP davon ab, der Erklärung zuzustimmen. Kanzler Sebastian Kurz und Außenminister Alexander Schallenberg wollen ihre politische Botschaft, keine Afghanen mehr aufzunehmen, nicht durch die Unterzeichnung der Erklärung der internationalen Gemeinschaft sabotieren. Man wolle „ehrlich“ sein, heißt es aus dem Kabinett des Außenministers. Und so findet sich Österreich im Verein mit den Nicht-Unterzeichnern wie Russland, China, anstatt an der Seite der USA und der freien Welt. Österreich hat sich entfreundet.
Das ist abstrus.
Zwar hat die ÖVP das gute Recht, auf ihrer Anti-Immigrationslinie zu beharren und sich für Aufnahmezentren in Nachbarstaaten einzusetzen. (Wobei: Einfach wird das in Afghanistans Nachbarschaft nicht.) Doch wenn sich alle Welt jetzt wegen akuter Bedrohung prowestlicher Afghanen für deren Rettung einsetzt, sind weiterführende Überlegungen, wie man allfällige Flüchtlingsströme in Zukunft verhindern könnte, bloße Ausflüchte.
Die Formulierung „Afghanen, die mit uns gearbeitet haben, und jene, die gefährdet sind“ beschreibt exakt die politische Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Unterschrift unter die Erklärung des US-State-Department ist nichts anderes als ein – enorm bedeutsamer – symbolischer Akt.
Österreich ist derzeit zudem Mitglied im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und will nach eigenen Angaben „bei der Entwicklung und Stärkung des internationalen Menschenrechtsschutzes im Rahmen der Vereinten Nationen und anderer Organisationen als Brückenbauer wirken“. Metaphorische Brücken, ja, eine konkrete Luftbrücke für verfolgte Afghanen – leider nein.
Diese Haltung bringt unserem Regierungschef die Ehre der Schlagzeile „Ösi-Kanzler Kurz knallhart – null Afghanen aufnehmen!“ in der deutschen Boulevard-Zeitung „Bild“ ein, aber befördert das Österreichs Glaubwürdigkeit als verlässlicher Partner im Moment höchster Bedrängnis? Österreich bewirbt sich um einen Sitz im Sicherheitsrat im Jahr 2027. Was will die Bundesregierung, respektive die ÖVP, bis dahin noch alles über Bord werfen, um die x-te Neu-Edition ihres Wahlschlagers „Nein zur Migration“ rauszuplärren?
Noch ein Disclaimer für besonders hartnäckige Missversteher: Nein, die 104 Unterzeichnerstaaten sind nicht Vertreter der Willkommenskultur. Es sei denn, Sie vermuten, dass etwa auch Israel oder Australien ihre Grenzen für muslimische Einwandererströme aus Afghanistan leichtfertig öffnen wollen.