Meinung

Erfolgsmodell Europa, next level

Die EU erwies sich als erstaunlich krisenfest. Nach den Wahlen braucht sie dennoch ein neues, gemeinsames Leitmotiv.

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Sogar hartgesottene Rock-Krach-Bands wie Metallica befiel die blanke Panik. Österreich, Deutschland und Italien schienen damals, im Winter 2012, zu unheimlich und unsicher. Wer würde denn auf ihre Konzerte kommen und ihre Gagen bezahlen – wo doch die EU und die Gemeinschaftswährung Euro unmittelbar vor dem Zusammenbruch stehen? Die US-Band verschob also damals ihre Europatournee.

Die Ängste erwiesen sich als unbegründet, mit ihrer Hysterie waren die Musiker aber alles andere als allein: Damals, im Winter 2012, traten Untergangspropheten in Serie auf, unter ihnen Starökonomen wie Paul Krugman und Nouriel Roubini. Und sagten voraus, dass der Bankrott von Spanien, Italien und Griechenland bald passieren, die Eurozone auseinanderfallen und die EU kaputtgespart werde. All diese Nachrichten vom Ableben des Euro und der EU: völlig falsch. Die EU spannte Rettungsschirme und erfand in nächtlichen Krisengipfeln Sixpacks und andere Fangnetze, die Europäische Zentralbank kaufte Staatsanleihen – und sie gemeinsam bewältigten vor rund einem Jahrzehnt die große Euro-Wirtschaftskrise. Eine Pleite erlebten nur die Schwarzseher.

Andere Krise, ähnliches Muster: Als das Vereinigte Königreich 2016 den Brexit beschloss, wurde die Zukunft der EU genauso düster gezeichnet. England werde eine ganze Welle an Austritten anführen, hieß es damals, die verbleibenden Rest-EU-Mitglieder sich heillos zerstreiten, die EU zerfallen. Nichts davon stimmte. Der Brexit passierte, England kiefelt ökonomisch und politisch schwer daran – aber der Rest der EU zeigte sich erstaunlich geeint. Und bleibtattraktiv und wächst, statt zu schrumpfen, Staaten wie Serbien und Mazedonien wollen beitreten. Auch diese Nachrichten vom Untergang waren verfrüht und falsch.

Die Lehre aus beiden Krisen: Oft wurde der Untergang des gemeinsamen Europa prognostiziert, doch die EU erweist sich als erstaunlich resilient und krisenfest undwesentlich beständiger als befürchtet (von EU-Fans) oder erhofft (von EU-Gegnern). Manchmal agiert die EU umständlich, teils langsam, immer wieder auf verschlungen-komplizierten Umwegen – allerdings: So funktioniert eben die Kompromissfindung unter komplett unterschiedlichen Partnern. Demokratie kann auch mühsam sein. Doch das Erfolgsmodell Europa hält.

Und ist in den aktuellen großen geopolitischen Krisen notwendiger denn je: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der Krieg mitten in Europa, würde jeden Einzelstaat hilflos zurücklassen, kleine Länder wie Österreich sowieso. Dasselbe gilt für Herausforderungen wie Migration oder Klimakrise – und Wirtschaftskonkurrenz von China bis USA. Für all das braucht es ein großes, geeintes, demokratisches Europa.

Auch deshalb widmet profil den EU-Wahlen und damit der Neubesetzung des EU-Parlaments und danach der EU-Kommission einen 40-seitigen Schwerpunkt und beleuchtet von europäischen bis zu österreichischen Spitzenkandidaten, von EU-Mitteln bis zu EU-Mythen viele Facetten des gemeinsamen Europa. Dessen Neuordnung selbst unter den vielen Weichenstellungen im Superwahljahr 2024 hervorsticht.

Und eine fundiertere Diskussion verdienen würde. Denn so resilient die EU sich auch erwiesen hat – um die Suche nach einem gemeinsamen europäischen Leitmotiv wird sie nicht umhinkommen, wenn nicht die EU-Skeptiker und Autokraten die Überhand bekommen sollen. Der alte Kalauer von Ex-EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, „niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“, gilt immer noch, Errungenschaften wie Wegfall von Grenzkontrollen und Roaminggebühren werden schnell zu Selbstverständlichkeiten, für die niemand täglich applaudiert. Nicht ohne Grund fordern nachdenkliche Europa-Fans wie der Schriftsteller Robert Menasse eine Weiterentwicklung der EU.

Welche Werte halten die EU zusammen? Wie soll der hehre Gründungsgedanke einer friedlichen, demokratischen und liberalen Union mit konkreten Inhalten angereichert werden – gerade in Krisenzeiten? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mit ihrem „Green Deal“ eine Antwort zu geben versucht, die aber von Corona-Ukrainekrieg-Energiekrise überlagert – und zudem bis zur Unkenntlichkeit zurechtgestutzt wurde.

Es wird eine der wesentlichen Aufgaben des neuen Europaparlaments und der nächsten EU-Kommission sein, das wunderbare Projekt Europa auf die nächste Stufe zu heben, eine Werteklammer und einen Grundkonsens dafür zu finden. Nein, leicht wird das nicht.

Aber auch diese Krise wird die EU meistern. Wie viele andere davor.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin