EU-Asyl-Einigung: Adieu, nationale Hysterie!

Warum der Asyl-Kompromiss der EU ein Fortschritt ist.

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Der Fortschritt zeigt sich manchmal bis zur Unkenntlichkeit entstellt, sodass man glauben könnte, es handle sich um sein hässliches Gegenteil, den Rückschritt. Am Donnerstagabend war ein solcher Moment. Die 27 Innenministerinnen und Innenminister der EU einigten sich nach jahrelangen Verhandlungen auf einen Kompromiss in der Asylpolitik, und es dauerte nicht lange, ehe es Kritik hagelte. Und zwar von links und von rechts.

Die rechtsgerichteten Regierungen Ungarns und Polens, die gegen den Plan aufgetreten waren (und überstimmt wurden), nannten das Ergebnis „schädlich“, „nicht umsetzbar“, und einen „Machtmissbrauch der EU“. Politiker der Grünen und der Sozialdemokraten wiederum monierten, die Einigung widerspreche den „europäischen Werten“, „der Rechtsstaatlichkeit“ und werde „dem Leid an den Außengrenzen nicht gerecht“.

Es fällt gar nicht schwer, gut begründete Einwände gegen das Verhandlungsergebnis zu formulieren, das übrigens erst noch durch das EU-Parlament muss. Es sieht vor, dass Anträge von Asylwerbern, die aus Ländern kommen, die eine geringe Anerkennungsquote aufweisen (weniger als 20 Prozent), an den EU-Außengrenzen einer „Vorprüfung“ unterzogen werden. Während dieser Schnellverfahren werden die Antragsteller „unter haftähnlichen Bedingungen“ in Aufnahmezentren untergebracht. Endet die Vorprüfung negativ, werden die Betreffenden abgeschoben.

Nur die Europäisierung der Asylpolitik kann einzelstaatlichen Irrationalismus und Bösartigkeit stoppen.
 

Die bange Frage lautet: Werden dieses Aussortierungsverfahren fair genug ablaufen, sodass Menschen, die aus einem vergleichsweise harmlosen Land kommen, dort aber dennoch verfolgt werden, am Ende Asyl erhalten? Die österreichische Migrationsforscherin Judith Kohlenberger etwa befürchtet auf Twitter, das Recht auf eine Einzelfallprüfung werde „massiv ausgehöhlt“.

Wird die Unterbringung in den Aufnahmezentren menschenwürdig sein? Werden die Abschiebungen rechtmäßig ablaufen? Wird sich in den Ländern, in denen diese Zentren errichtet werden, ein Rückstau an abgelehnten Asylwerbern, die nicht abgeschoben werden können, bilden?

Auch der zweite große Punkt der Einigung – die Verteilung der anerkannten Asylwerber auf alle EU-Staaten – ist nicht unproblematisch. Man kann sich von der Verpflichtung freikaufen, die Rede ist von 20.000 Euro pro nicht aufgenommenem Asylwerber. Werden sich reiche Staaten auf diese Weise aus der Affäre ziehen und die Aufnahme ausgerechnet den Ländern überlassen, denen die notwendigen Ressourcen zur Integration fehlen?

Sieht so der Fortschritt aus? Manchmal, ja.

Denn alle Skepsis kann eine Errungenschaft nicht aufwiegen: Die Asylpolitik, die in den Nationalstaaten seit Jahrzehnten als Betätigungsfeld für Populisten, Bösartige, Verantwortungslose und Weltfremde dient, wird damit Regeln der Europäischen Union unterworfen. Diese Einigung kann der erste Schritt auf dem Weg zu einem „gemeinsamen Raum der Grenzen, des Asyls und der Migration“ sein, den Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner legendären Rede an der Sorbonne 2017 forderte. Nur die Europäisierung kann einzelstaatlichen Irrationalismus stoppen. All die unsinnigen Schikanen und hetzerischen Gemeinheiten, die bloß erdacht werden, um im Segment der mit niedrigen Instinkten ausgestatteten Wähler zu punkten, gehören der Vergangenheit an, wenn Asylregeln europäisch festgelegt werden. Falls es diesmal gelingt.

Der Grad an Vernunft in der Asyl- und Migrationspolitik steigt unweigerlich, wenn alle 27 gemeinsam entscheiden. Das hat mehrere Gründe: Erstens bestimmt nicht länger die individuelle geografische Lage an oder abseits von Flüchtlingsrouten den Standpunkt, sondern die Gesamtschau.

Zweitens sorgt die Verantwortlichkeit der EU dafür, dass Staaten wie Ungarn Asylwerber nicht länger mit Verweis auf nationale Souveränität mies behandeln können; EU-Aufnahmezentren müssen EU-Standards entsprechen.

Drittens ist auch die Abschiebung gemäß EU-Kriterien kein nationales Politikum mehr, bei dem Innenminister je nach ideologischer Neigung Härte oder Nachsicht zeigen. Eine einheitliche Asylpolitik ist transparenter, berechenbarer und damit auch fairer.

Viertens ist eine Verteilung von Asylberechtigten innerhalb der EU vernünftig. So kann der abstoßende Wettlauf der einzelnen Staaten, sich Asylwerbern möglichst abschreckend zu präsentieren, ein Ende finden.

Stimmt, soweit sind wir noch lange nicht. Und richtig, auch gemeinsam beschlossene EU-Regeln können fragwürdig sein. Aber aus den genannten Gründen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Pragmatismus gegenüber Hysterie die Oberhand gewinnt. Alleine die Gesamtzahl der Asylwerber – 2022 waren es 966.000 – nimmt sich gemessen an der EU-Bevölkerung von 447 Millionen schon ganz anders aus als die Zahlen einzelner, stark belasteter Länder.

Besser so.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur