Meinung

EU-Wahl: Warum 1% ein Riesenvorsprung für die FPÖ ist

ÖVP, FPÖ und SPÖ liegen im EU-Wahlergebnis doch überraschend eng beieinander. Ist damit für die Nationalratswahl im Herbst wieder alles offen? Nein, denn die FPÖ ist den anderen Parteien zumindest strategisch meilenweit voraus.

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Jetzt ist es also passiert: Die FPÖ feierte ihren erwarteten Wahlsieg. Mit 25,7 Prozent (+8,5 Prozentpunkte) holte sie Platz eins und lag damit erstmals bei einer bundesweiten Wahl vorne. Die ÖVP lag am Ende nur einen Prozentpunkt dahinter – das war unerwartet weniger desaströs als prognostiziert. Die Grünen holten 10,7 Prozent – das sind zwar vier Prozentpunkte weniger als bei der letzten EU-Wahl 2019, nach der ganzen Lena-Schilling-Chose hätte es aber übler werden können.

Traurig waren SPÖ und NEOS, obwohl es dafür, betrachtet man die nackten Zahlen, gar keinen großen Anlass gibt. Die Sozialdemokraten verloren (trotz fast gleichbleibendem Ergebnis) den zweiten Platz – Spitzenkandidat Andreas Schieder konnte seinen Grant und seine Enttäuschung darüber am Wahlabend bei den Interviews und hinter den Kulissen nicht verbergen. Auch die NEOS hatten am Papier gar kein so schlechtes Ergebnis: Man verbesserte sich von 8,4 auf 9,9 Prozent. Trotzdem: die wohl dezidiert pro-europäischste Partei Österreich hat sich insgesamt mehr erwartet. Außerdem war dieser Sonntag ein weiterer Beweis, wie bei schon so vielen Wahlen davor, dass das pinke Politprojekt nicht wirklich schafft, über sich und die Zweistelligkeit hinauszuwachsen. Außerdem ist die Gesamtwetterlage für die liberalen Parteien Europas frustrierend – ihre Fraktion im Europaparlament „Renew Europe“ verlor ordentlich. Die FDP in Deutschland stank so richtig ab. 

Platz eins bis drei liegen also nach diesem Wahlabend recht nah beieinander – würde man Rückschlüsse für die Nationalratswahl ziehen wollen, könnte man meinen, es sei noch vieles offen. Denn der prognostizierte Erdrutschsieg der FPÖ mit großem Abstand ist es dann doch nicht geworden. Stimmt. Und auch wieder nicht. Denn die FPÖ hat strategisch einiges geschafft, wovon die anderen nur träumen können. Erstens: Sie hat ihre eigentlich EU-kritischen Wähler, die zuvor gar nicht zu den Wahlen gegangen sind, zur Urne bewegen können. Sie haben aus dem Lager der Nichtwähler mobilisiert – also im Pool jener fischen können, die sich eigentlich schon von der Politik verabschiedet hatten. Das gelang den anderen Parteien (trotz großspuriger Pläne) bisweilen kaum.

Zweitens: Man hat sich von der der ÖVP wieder einiges an Stimmen zurückkrallen können. Das gelang mit einem für die unterschiedlichen Zielgruppen recht differenzierten Wahlkampf. Spitzenkandidat Harald Vilimsky gab sich etwa im Fernsehen (älteres, konservatives Publikum) auch bei heiklen Fragen moderat – zur Migrationskrise sagte er etwa fast gelassen, man müsse dann eben mehr kontrollieren oder dass es strenge Regeln bräuchte. Ganz andere Töne schlug man bei selbigen Themen in rechten Medien und anderen Social-Media-Kanälen an. Dort bekam das entsprechende Publikum die von der FPÖ gewohnten Hassparolen. Darüber streute man noch ein paar emotionale Themen wie das Plastikstrohhalmverbot oder die neuen Regelungen zu Plastikflaschenkappen. Man könnte meinen, das seien irrelevante Themen – nur, dazu hat einfach jede/r eine Meinung. Da heißt nur zu oft: Warum kümmert sich die EU um so einen Blödsinn. Oder: Glauben die wirklich, ich schmeiße meinen Müll einfach irgendwohin. Die Wütenden wählten den Protest – also Blau. 

Drittens: Man hat die rechten Netzwerke über die Landesgrenzen hinaus nutzen können und so nationalistisch gepolte Menschen für Internationales begeistern können. Das gelang über rechte Propagandakanäle wie etwa AUF1, die vor allem in Deutschland und Österreich aktiv sind. Dort hatten FPÖ-Chef Herbert Kickl und AfD-Chefin Alice Weidel vor einigen Monaten zusammen ein Exklusiv-Interview gegeben und den gemeinsamen austro-deutschen EU-Wahlkampf ausgerufen. Am Ende hat es beide nach oben gepusht. Die AfD liegt in Deutschland auf dem unerwarteten Platz zwei – im Osten Deutschlands in vielen Bundesländern gar mit Abstand auf Platz eins. 

Insgesamt wurden die Bundesregierungen in Österreich, Deutschland aber auch Frankreich abgestraft. Die SPD von Olaf Scholz lag bei mickrigen 13,9 Prozent. Die rechtsnationale Partei von Marine Le Pen holte überragende 31,5 Prozent. Das bewog Frankreichs Präsident Emanuel Macron noch am Wahlabend überhastete Neuwahlen auszurufen. Er pokert hoch, hofft so wohl noch einmal eine Allianz gegen Rechts schmieden zu können. 

Jetzt hat Österreich in der Weltgemeinschaft aufgrund der Winzigkeit keine prägende Rolle – auch wenn das hierzulande gern anders wahrgenommen wird. Wenn die Regierungschefs aus Deutschland und Frankreich, die historisch gesehen die starken Figuren Europas waren, angezählt sind, ist das nicht nur ein innenpolitisches Problem für sie, sondern ein großes der EU und am Ende für die Welt. Unsere europäische Stimme wird weniger gewichtig – dabei wäre Europa gerade jetzt gefragt, auch angesichts der anstehenden US-Wahl. Wenn Trump die Wahlen gewinnt, muss Europa mehr Entscheidungen in großen Fragen wie Krisen, Klima und Kriegen treffen. Das geht nur mit einer gefestigten Stimme, Demokratie und dementsprechendem Rückhalt – den haben angezählte Regierungschefs aber nicht. 

Dieses Jahr werden noch viele Weichen gestellt – in diesem Land und global. Wenn die etablierten, altgedienten Parteien nicht endlich aus ihrer Schockstarre aufwachen – und neue Rezepte für sich finden, werden sie vielleicht künftig marginalisiert auf der Oppositionsbank sitzen. Und die Welt wie wir sie kennen, mit ihren liberalen Demokratien, wird eine andere werden. Das Aufatmen nach der EU-Wahl ist nicht einmal eine kurze Verschnaufpause.

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.