Leitartikel

Europa hat seine mächtigsten Anführer gerade verloren

Die Welt geht nicht unter, weil die FPÖ die EU-Wahlen gewonnen hat – Ergebnisse ihrer rechten Schwesterparteien in Frankreich und Deutschland werden sie aber grundlegend verändern.

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Halb Österreich staunt noch. Die FPÖ hat es bei der EU-Wahl tatsächlich geschafft, Platz eins zu holen. Und das, obwohl ihre Wähler als EU-Muffel gelten – und alle anderen Parteien getrommelt haben, dass es um nichts Geringeres als die Demokratie, und damit die Zukunft Österreichs, Europas und der Welt gehe. Alle Drohszenarien haben nichts genützt. Die FPÖ ist mit dem radikalsten Parteichef, den sie je hatte, als Erste ins Ziel gelaufen. Das hatte dem Scharfmacher Herbert Kickl bei Antritt kaum jemand zugetraut. Wir lernen: Man sollte ihn nicht unterschätzen, aber kann sich einiges von ihm abschauen.

Zum Beispiel, dass sich langfristige Strategien mehr auszahlen als Politik à la Umfrage zu machen – wie die ÖVP das zuletzt mit ihrem Verbrennermotor-Gejubel tat. Man kann von der FPÖ lernen, wie für die jeweiligen Zielgruppen differenzierter Wahlkampf geht: Für das Fernsehen eher moderat, um Mitte-Konservative abzuholen; in den Social-Media-Kanälen für die Verschwörungsliebhaber, verschwörerisch. Für den rechten Rand mit entsprechend codierter Semantik. Für die FPÖ-Stammwähler gibt es klassischen Wahlkampf mit reißerischen Plakaten und John-Otti-Band.

Neben altbewährten Schlagern wie Migration – der weltweit politische Massen von links nach rechts verschiebt – hat man sich ein paar Themen herausgepickt, wo man sich als einzige dafür oder dagegen positionierte: Wer außer der FPÖ hat wirklich Kritik an der EU geübt? Ebenso war und ist die Haltung zu Covid oder Russland (aus guten Gründen) eher einsam. Die Blauen kochten mit Randthemen wie Plastikstrohhalm- oder Plastikflaschenkappenverbot Gefühle hoch – denn auch das ist eine Wahrheit: Zu so etwas hat wirklich jeder eine Meinung Und die heißt oft: Haben die in Brüssel nichts Besseres zu tun, als für so einen Blödsinn Gesetze zu erfinden? Freilich, vieles von dem, was die FPÖ getrommelt hat, sind leere Versprechen statt konstruktiver Lösungen. 

Denn auch wenn Spitzenkandidat Harald Vilimsky verspricht, die EU grundlegend zu verändern – er kann das als Einzelner freilich nicht. Die FPÖ-Fraktion hält nun sechs statt drei Plätze im EU-Parlament. Das ist ein beachtliches Ergebnis, die Welt verändern werden die Blauen aber alleine nicht, dafür ist Österreich zu zwergig.

Dennoch rückt Europa insgesamt nach rechts. Wenn die FPÖ im Herbst die Wahlen gewinnt und es schafft eine Regierung zu bilden, wäre Österreich das achte EU-Land, das von einer rechten Partei (mit-)regiert wird. Der Trend zeigt: Jene, die eine Anti-EU- und Pro-Putin-Haltung vor sich hertragen werden damit mehr. Nun sind die konservative und die sozialdemokratische Fraktion (nicht zuletzt wegen der Abstimmungsergebnisse im Osten) auch nach dieser Wahl noch die größten Fraktionen im EU-Parlament. Spielentscheidend ist oft aber mehr, was im Europäischen Rat passiert – also dort, wo sich nationale Minister treffen, um Gesetze zu verhandeln und zu verabschieden. Dort ändert sich die Stimmung zunehmend gravierend, die proeuropäischen Stimmen verstummen immer mehr.

Die lautesten und innerhalb der EU tonangebenden haben gerade einen ordentlichen Dämpfer bekommen. Was gerade in Frankreich und Deutschland passiert ist, wird weltverändernd sein. Emmanuel Macron steht vor einer Staatskrise. Die FPÖ-Schwesterpartei „Rassemblement National“ von Marine Le Pen holte bei der EU-Wahl mehr als 30 Prozent. Macrons eigenes Bündnis erreichte nur 14,6 Prozent. Macron rief sekündlich Neuwahlen aus, eine äußerst gewagte Aktion. Nicht weniger unerfreulich war das Wahlergebnis für den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, seine SPD holte nur 13,9 Prozent, zwei Prozent weniger als die rechte AfD, die praktisch in der ganzen ehemaligen DDR auf Platz eins liegt. Das Ergebnis zeigt schmerzhaft, wie wenig die Wiedervereinigung funktioniert hat, wie sehr das Land emotional gespalten ist – und wie groß das Neonazi-Problem wieder geworden ist.

Frankreich und Deutschland sind (noch) die großen tonangebenden Nationen Europas. Was sie sagen und tun, das hatte bisher Gewicht auf der ganzen Welt – das war spielentscheidend für Konflikte und Kriege. Wenn diesen Staatsoberhäuptern nun der Rückhalt der eigenen Bevölkerung fehlt, wie sollen sie mit Kraft gewichtige Entscheidungen treffen? Entschlossen eine Haltung einnehmen? Wie soll etwa Scholz seine Pro-Ukraine-Haltung durchsetzen, wenn die Hälfte seines Landes eine Partei wählt, die eindeutig Pro-Putin ist? Wie wird sich die Dynamik noch verstärken, falls Putin-Freund Trump im Herbst die US-Wahl gewinnt? Wer soll ihm ein ausgleichender Gegenspieler sein? Die EU wird immer schwächer – das sehen auch ihre Gegner. Sie werden das schamlos ausnutzen.

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.