Eva Linsinger: Auflösungskompetenz

Die Bundespräsidentenwahl gerät endgültig zur Farce. Das ist nicht nur blamabel, sondern gefährlich.

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Historiker laufen selten Gefahr, von Schnappatmung oder Hysterie befallen zu werden. Ohne gemächliche Nachdenkpause geht wenig, ihre Standardformel lautet: „Es ist zu früh, das zu beurteilen.“ Dieser berühmte Satz fiel im Jahr 1971 zwischen den Politikern und studierten Geschichtswissenschaftern Henry Kissinger und Chou En-Lai – auf die Frage, welche Bedeutung die Französische Revolution habe. Wenn es bei dieser geruhsamen Herangehensweise bleibt, werden Historiker ungefähr im Jahr 2198 zum fundierten Schluss kommen: 2016 war das Jahr, in dem die österreichische Demokratie ernsthafte Auflösungserscheinungen zeigte.

Diese Schlussfolgerung aus einer Lappalie wie fehlerhafte Klebestreifen auf Wahlkarten mag überzogen erscheinen – aber nur dann, wenn man sich an den nonchalanten heimischen Umgang mit Schlampereien gewöhnt hat. Das Wahlrecht gilt aus guten Gründen als das höchste Gut in der Demokratie. Es darf nur in absoluten Ausnahmefällen, etwa nach einer schweren Straftat, entzogen werden. Wenn sich Wahlkuverts auf dem Postweg aus mysteriösen Gründen auflösen, weil die Druckerei geschlampt und es offenbar niemand für notwendig befunden hat, das rechtzeitig zu überprüfen, dann wird das Vertrauen in den Maschinenraum der Demokratie erschüttert. Offenbar ist die überbordende österreichische Bürokratie, die neun verschiedene Murmeltierschonzeiten und ähnlichen Unsinn administriert, unfähig, eine Wahl anständig über die Bühne zu bringen. Man muss keine verschwörungstheoretischen Neigungen haben, um ernsthafte Zweifel am ordnungsgemäßen Zustandekommen von Wahlergebnissen zu hegen. Das sitzt tief – und festigt Österreichs internationalen Ruf als Lachnummer.

Es wäre in diesen chaotischen Tagen tröstlich, zu wissen, dass der politisch Verantwortliche für Wahlen entschlossenes Krisenmanagement betreibt. Doch Innenminister Wolfgang Sobotka praktiziert das Gegenteil. Er ändert im Stundentakt seine Meinung: Zuerst beschwichtigt er, es handle sich nur um Einzelfälle. Kurz darauf verbreitet sein Ministerium die skandalöse Rechtsansicht, dass Empfänger von schadhaften Kuverts eben Pech hatten und ihre Stimmen ungültig sind. Dann heißt es, eine Verschiebung der Bundespräsidentenwahl sei rechtlich gar nicht möglich. Erst als das Chaos nicht mehr zu negieren ist, lässt Sobotka hektisch prüfen, ob die Kür des Staatsoberhaupts vertagt werden muss.

Vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus, besonnene Verantwortliche auch – und politische Konsequenzen sowieso. Schon aus nichtigeren Anlässen wurde der Rücktritt eines zuständigen Ministers gefordert.

Von einer Wahlwiederholung unter gleichen Bedingungen kann längst keine Rede mehr sein.

Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Wahl des verstaubtesten Amtes der Republik die Auflösungserscheinungen der heimischen Demokratie derart schonungslos zutage fördert. Die Erosion der heimischen Ausformung der Parteiendemokratie ist schon seit Längerem zu beobachten, der erste Wahlgang für die Hofburg geriet zum Fanal für deren wahres Ausmaß: Die Kandidaten der ehemaligen Großparteien SPÖ und ÖVP wurden nach hinten durchgereicht und überwanden mit Mühe und Not gerade die Zehn-Prozent-Hürde. Die Regierungsfähigkeit befeuerte das nicht gerade, der vom neuen Kanzler Christian Kern ausgerufene Neustart verlief bisher im Sande.

Ausgerechnet der Verfassungsgerichtshof, eine der höchsten Instanzen in einer Demokratie, beschleunigte mit seiner umstrittenen Entscheidung, die Stichwahl zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer wiederholen zu lassen, die Auflösungserscheinungen. Niemals zuvor musste in einer entwickelten Demokratie eine bundesweite Wahl neu ausgetragen werden; mittlerweile steht Österreich unter akutem Bananenrepublik-Verdacht.

Wenn die Wiederholung der Stichwahl verschoben wird – und jede andere Entscheidung wäre angesichts der gravierenden Zweifel an einer ordnungsgemäß durchzuführenden Wahl untragbar –, gerät die Kür des Staatsoberhauptes endgültig zur Farce. Für diese Stichwahl im November oder Dezember gilt immer noch das Wählerverzeichnis vom 5. April – obwohl bis dorthin rund 60.000 Wahlberechtigte von damals verstorben sein werden und weitere 60.000 Junge das Wahlalter erreicht haben, aber dennoch den Bundespräsidenten nicht mitwählen dürfen. Auch das kann ein Wahlergebnis massiv verzerren – nur zur Erinnerung: Im ersten Stichwahlversuch lagen Hofer und Van der Bellen gerade einmal 30.000 Stimmen auseinander. Von einer Wahlwiederholung unter gleichen Bedingungen kann längst keine Rede mehr sein.

Man muss beileibe kein Alarmist sein, um diese Gemengelage für gefährlich zu halten; längst machen sich Wahlmüdigkeit und andere demokratiezersetzende Ermattungserscheinungen breit. Österreichs Versuch, einen Bundespräsidenten zu wählen, Volume III – ein Debakel.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin