Eva Linsinger: Die FPÖ im Nacken
Die Abgesänge klangen fundiert und wurden im Brustton der Überzeugung vorgetragen: Vom Tiefschlag Ibiza-Debakel, hochnotpeinliche Korruptionsprozesse und dreiste Spesenskandale inklusive, werde sich die FPÖ nicht schnell erholen, weil ihre ungenierten Nehmerqualitäten selbst für eingefleischte Fans überdeutlich wurden und die Propagandalinie der „Kleine-Mann“-Partei als blanken Schwindel entlarvten. Als Regierungspartei sind die Freiheitlichen sowieso hochkant gescheitert, wie bisher jedes Mal, wenn sie das Vizekanzleramt betraten. Und: Die Anti-Corona-Linie ist viel zu rabiat, nur ein Fall für abstruse Rechts-Außen-Verschwörungstheoretiker – ein überaus enges Spektrum, auf dem noch dazu die Bin-auch-radikal-dagegen-Partei MFG als neuer Konkurrent mitmischt. Nicht zuletzt: Mit Krieg, Teuerung und Pandemie finden drei komplexe Megakrisen gleichzeitig statt, für alle braucht es seriöse Konzepte, keine Schreihals-Protestpolitik á là FPÖ.
Alle diese Argumente hörten sich plausibel an und stimmen bis heute. Dennoch erwiesen sich Nachrichten vom Dahinwelken als übertrieben. Nicht zum ersten Mal. Die FPÖ macht ihrem Ruf als Dauercomeback-Kid der Innenpolitik alle Ehre und sitzt den Regierungsparteien im Nacken. Mehr noch, in den jüngsten Meinungsumfragen rückt sie dicht an die gebeutelte ÖVP heran, die türkis-grüne Koalition ist meilenweit von einer Mehrheit entfernt.
Die Zornsammelstelle FPÖ, Ventil für Unmut aller Art, braucht nur mehr die Unzufriedenen einzusammeln.
Willkommen Ende der 1990er-Jahre! Willkommen in den Jahren 2013, 2014! Beide Male regierte die bresthafte Große SPÖ-ÖVP-Koalition, mehr gegen- als miteinander, wagte beide Male aus Angst vor dem Aufstieg der Rechtspopulisten wenig – und befeuerte beide Male gerade dadurch den Siegeszug der FPÖ. Knittelfeld und andere FPÖ-Implosionen bremsten nur kurz, FPÖ-Wähler neigen zu besonderer Vergesslichkeit. Auch deshalb fühlt sich Innenpolitik manchmal an wie die Endloswiederholung „Täglich grüßt das Murmeltier“.
Diese jahrzehntelange Dauerschleife hat allerdings den Vorteil: Es ist ausreichend erprobt, welche Methoden gegen die FPÖ nicht funktionieren. Fehlversuch 1: Aus Furcht, jede Handlung könnte Zorn im FPÖ-Fansektor auslösen, möglichst gar keine Politik zu machen – erprobt etwa unter SPÖ-Kanzler Werner Faymann. Gescheitert. Fehlversuch 2: Die populistischen Politikmuster der FPÖ übernehmen – praktiziert unter ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz, etwa bei der Kürzung der Familienbeihilfe für Kinder im Ausland. Problem: Widerspricht Europarecht, Österreich muss Millionen nachzahlen, Pflegerinnen aus Ungarn und der Slowakei kündigten – die Form der Politik hat also keinen Bestand.
All diese vermeintlichen Patentrezepte, der FPÖ den Wind aus den Segeln zu nehmen, führten nicht zu Erfolgen – höchstens zu Sekundentriumphen, denen Katzenjammer folgte. Was bleibt also Türkis-Grün? Eine leichte Antwort auf diese jahrzehntelange Königsfrage der heimischen Innenpolitik existiert nicht, aber eine Annäherung: Immer dann, wenn Regierungen es wagten, auch zu regieren, wenn die Koalitionsparteien Tatendrang und Führung vermittelten, noch dazu gemeinsam, kamen sie aus der Defensive.
Insofern ist das wuchtige und im Wesentlichen gelungene Anti-Teuerungspaket von Türkis-Grün ein kräftiges Lebenszeichen der Koalition. Gewiss, manche Details werden aus guten Gründen kritisiert, die große Gießkanne etwa, mit der auch Bestverdiener üppig bedacht werden, oder die Nonchalance, mit der bei Gegenfinanzierung auf Wirtschaftswachstum und sprudelnde Steuereinnahmen gehofft wird – aber: In den Grundzügen ist das Paket mutig und entlastet viele. Wenn die Abschaffung der kalten Progression tatsächlich umgesetzt (und nicht nur versprochen) wird, gelingt sogar ein nachhaltiger Wurf, der kommende Regierungen zwingt, die ständigen Firlefanz-Steuerreform-Shows bleiben zu lassen. Ein hochwillkommener und längst fälliger Beitrag zur Versachlichung der Politik.
Ein Anfang ist gemacht, Zeit für den nächsten Schritt: mehr Ehrlichkeit. Die Wahrheit ist den Wählern zumutbar, der derzeitige Rockstar der Politik, der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, exerziert gerade vor, wie man mit schonungsloser Offenheit punktet. In Österreich hingegen wird vom Kanzler abwärts mehr versprochen, als gehalten werden kann: Nein, die Politik kann nicht die ganze Teuerung ausgleichen und auch sonst nicht vor jeglichem Unbill schützen. Daher sollte sie es nicht vorgaukeln – sonst weckt sie Erwartungen, die sie nie erfüllen kann, auch nicht mit dem größten Fantastilliardenpaket. Und die Zornsammelstelle FPÖ, Ventil für Unmut aller Art, braucht nur mehr die Unzufriedenen einzusammeln.
Nicht zuletzt: Diese Aufrichtigkeit hat auch in eigener Sache zu gelten. Die Tarn- und Täuschmanöver der ÖVP zu Korruptionsserien und Wahlkampfbilanzen, die bei den Kontrolloren vom Rechnungshof so viele Fragen aufwerfen, dass sie Wirtschaftsprüfer schicken, sind kein Rezept, um Vertrauen wiederherzustellen. Ehrlicher Wille zur Aufklärung von Fehlverhalten in den eigenen Reihen hingegen durchaus.
Keine Frage: All das klingt anstrengend, mühsam und zäh – ist es auch. Bloß: Was ist die Alternative? Dem Anstieg der FPÖ tatenlos zuzusehen?