Eva Linsinger: Die Zeit des Schönredens ist vorbei
Sie marschierten auf die Kommandobrücke des Kanzleramtes und agierten als Pandemie-Cheferklärer: Kanzler Sebastian Kurz, Vizekanzler Werner Kogler, Gesundheitsminister Rudolf Anschober und Innenminister Karl Nehammer. Fast ein Jahr lang verkündete dieses virologische Quartett, was in der Corona-Krise gilt, was verboten und was erlaubt ist. Zuletzt wechselte die Besetzung. Statt Vizekanzler und Innenminister treten Landeshauptmänner auf. Eines blieb aber gleich: Die einzige Frau auf der großen Krisenbühne Kanzleramt – das ist die Gebärdendolmetscherin. Sonst blieben in der Corona-Chefrunde die Herren unter sich.
Klar, es gab in früheren Regierungen Innenministerinnen, Gesundheitsministerinnen, auch eine Vizekanzlerin und kurz sogar eine Kanzlerin. Dass all diese Ämter derzeit mit Männern besetzt sind, ist purer Zufall. Aber einer mit hoher Symbolkraft: Wenn es wirklich ernst wird, dann sind wir plötzlich in die Männerwelt zurückkatapultiert, dann brechen Verhaltensmuster durch, die längst überwunden schienen. Schonungslos deutlich, wie unter dem Brennglas, treten in der Ausnahmesituation die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten zutage. Eine davon: Österreich ist in puncto Frauenemanzipation sehr viel weniger weit als gedacht. Leider.
Diese bittere Erkenntnis beginnt erst zu sickern. Denn vor der Krise dominierte eine gewisse Zuversicht, dass sich Geschlechterrollen rasant wandeln: Männer gehen genauso in Karenz, Frauen sitzen genauso in Führungsetagen, diesen steten Fortschritt werden auch aus der Zeit gefallene Uralt-Machos nicht verhindern. So lautete die gängige These – und wer das anders sah, wurde in die Kategorie „jammernde Opfer-Feministin“ eingereiht.
Diese Weltsicht war sehr bequem. Denn wenn Österreich ohnehin schnurstracks, unaufhaltsam und in Riesenschritten unterwegs zur Gleichberechtigung ist, dann braucht es kein anstrengendes Kopfzerbrechen und keine mühseligen Gesetze. In der türkisen ÖVP ist die Denkweise weit verbreitet, bis hin zur Frauenministerin. Auf Fakten beruhte diese Meinung nie wirklich. Die zeichnen ein anderes Bild: Fortschritte finden zwar statt – aber im Schneckentempo.
Gemessen in Zahlen: Österreich sitzt in der EU auf der Gender-Eselsbank und belegt den beschämenden drittletzten Platz. Nur in Estland und Lettland sind die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen noch größer als hierzulande. Oder: Jämmerliche 6,8 Prozent beträgt der Frauenanteil in den Vorstandsetagen der ATX-Unternehmen, noch peinlich niedriger ist er nur in Luxemburg. Wer angesichts derartiger Zahlen behauptet, Nachteile für Frauen existieren nicht (mehr), muss an ausgeprägter Mathematikschwäche leiden.
Gemessen in Aufregern einer Woche: „Kurier“-Chefredakteurin Martina Salomon erhält ein widerwärtiges Hass-Mail und postet es auf Facebook. Die unsoziale Plattform Facebook sperrt daraufhin – Salomon, wen sonst. Oder: Eine Frau wehrt sich gegen sexuelle Belästigung vor Gericht, die Richterin schasselt sie mit den Worten ab: „Sie träumen von warmen Eislutschern.“ Ja, das passierte in einer einzigen Woche. Noch Fragen, wie verbreitet Alltagssexismus ist?
Gemessen in politischer Vertretung: Bei Bürgermeistern lohnt sich Gendern kaum – satte 91 Prozent von ihnen sind Männer, je ländlicher die Gegend, umso exotischer sind Frauen in der Gemeindepolitik. Das schlägt sich in den Prioritäten nieder: An Kindergartenplätzen hapert es am Land oft – an schmucken neuen Feuerwehrautos oder heimeligen Vereinslokalen für Fußballklubs seltener. Wundert sich noch jemand, warum Landflucht weiblich ist, warum es gerade gut ausgebildete Frauen in Städte zieht?
Gemessen in Corona-Trends: Die Pandemie traf alle – Frauen aber härter. Mit erschreckendem Automatismus fiel ihnen mehr „Home“ als „Office“ zu, schieden sie laut peniblen Vermessungen des Wirtschaftsforschungsinstitutes öfter und schneller aus dem Berufsleben aus und schulterten mehr Homeschooling. Welch Ernüchterung! Klar, es gibt sie, all die modernen Väter, die sich genauso intensiv und selbstverständlich um Kinder kümmern wie Mütter. Aber offenbar gibt es deutlich weniger von ihnen als angenommen.
Quer durch die aktuelle profil-Ausgabe ziehen sich kühle und erhellende Befunde zum Status quo der Gleichberechtigung. Sie alle eint ein Grundtenor: Mit der Corona-Pandemie muss die Zeit des Schönredens endlich vorbei sein. Die ideologischen Debatten lassen sich ganz schnell abhaken: Ja, früher war alles noch viel schlimmer. Aber: Es ändert sich zu langsam zu wenig. Und, an die Adresse der SPÖ: Nein, es ist viel zu billig, die Alleinschuld daran der ÖVP zu geben – denn wer war jahrzehntelang Kanzlerpartei? Eben.
Kanzler Sebastian Kurz spricht von sich und seiner Regierung gern im Superlativ, zählt sich und Österreich am liebsten zu den schnellsten, besten, modernsten Staaten. Höchste Zeit, sich von der Gender-Eselsbank wegzubewegen.