House of Kurz
Selten hat ein Wahlslogan derart gestimmt. „Zeit für Neues“ versprach Sebastian Kurz, damals strahlender Hoffnungsträger, im Jahr 2017 – und neue Zeiten erlebt Österreich in der Tat, wenn auch völlig andere als Kurz, mittlerweile zweifacher Ex-Kanzler, sich das in seinen düstersten Alpträumen hätte ausmalen können. Im Zeitraffer: Ibiza. Misstrauensantrag. Expertenregierung. Neuwahl. Korruptionsermittlungen von Wien bis Bregenz. Rücktritte. Kanzlerwechsel. Nepotismus-Biotope. Schlammschlachten.
Die Republik wirkt wie eine Dauerfolge der zynisch-abgefeimten Politserie „House of Cards“, mit immer neuen, immer bizarreren Plot-Twists. Wer aus dem einst verschworenen türkisen Bussi-Bussi-Familienclan kommt verwanzt zu Treffen? Wer nimmt wie nach einem schlechten Geheimdienst-Skript heimlich Telefonate mit wem auf? Welcher skrupellose Karrierist geht wie weit? Wer schanzt schamlos wem Jobs zu, wer intrigiert gegen wen, wer frisiert mit Steuergeld Umfragen, wer versucht welche Medien zu kaufen, wer kann es sich durch direkten Zugang zur Macht richten, wer gehört nicht zur Familie und hat keine Chance? Bleiben Sie dran, die nächste Aufregerfolge kommt bestimmt!
Die zusehends angewiderte Öffentlichkeit erhält ausnahmsweise direkte Einblicke in den sonst geheimen Maschinenraum der Macht, in dem es noch deutlich ungustiöser zugeht als ohnehin angenommen. Genau das ist der Stoff, aus dem Politikverdrossenheit gemacht ist.
Höchste Zeit, kurz innezuhalten, einige Nebelgranaten beiseite zu wischen und nüchtern – politische – Zwischenbilanz zu ziehen.
Selbstverständlich ist es Angelegenheit der Justiz, wer wegen welcher Korruptionsdelikte angeklagt (und verurteilt) wird und wer nicht. Bis dorthin gilt genauso selbstverständlich für alle die Unschuldsvermutung.
Die Schuldvermutung gegen „die Gaunerpolitiker“ erreicht erschreckende Rekordhöhen, Wutkandidaten können mit Attacken gegen „das System“ punkten.
Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ist die erste ernsthafte Anti-Korruptionsbehörde, die Österreich je hatte. Sie setzt gerade neue Standards, was geht – und was eben nicht. Das mag manche irritieren, die zu lange achselzuckend hinnahmen, dass es hierzulande immer schon so war, dass Menschen auf Positionen gehievt werden, deren einzige Qualifikation aus dem richtigen Parteibuch besteht. Diese unselige Tradition endlich zu durchbrechen, ist ein längst überfälliger Prozess. Natürlich hat die ÖVP recht, wenn sie argumentiert, dass auch die Ex-Kanzlerpartei SPÖ Umfragen und Steuergeld missbrauchte und Politgünstlinge beförderte. Genauso natürlich sind Zweifel zulässig, was von den Aussagen von Thomas Schmid, dem großspurigen Chatter der Nation, stimmt und was nicht.
Bloß: Diese Flucht in die Opferrolle wird – politisch – nicht reichen. Es mag bequem für die ÖVP sein, sich als von allen Seiten verfolgte Unschuld zu gerieren und mit der Welt zu hadern. Glaubwürdig ist es nicht. Anstand beginnt bereits lange vor der Grenze des Strafrechts, Politik hat eine mindestens ebenso gravierende moralische Komponente. Nicht ohne Grund ist Glaubwürdigkeit eines der hehrsten politischen Güter – und gerade sie ist durch das verheerende Sittenbild aus kaltschnäuziger Machtbesessenheit massiv erschüttert.
Einige Tage Schockstarre seien der ÖVP zugestanden, ewig wird sie sich aber nicht vor der politischen Aufarbeitung drücken können. Denn vom System Kurz, der Hoffnung, einen neuen, modernen, attraktiven Konservatismus bieten zu können, einem Versprechen, das viele elektrisierte, bleibt nicht mehr als ein Scherbenhaufen. Kurz war ein Popstar, aber seine Hits hatten inhaltlich keinen Bestand: Die Balkanroute ist alles andere als geschlossen, sondern meilenweit offen. Die Kassenreform kostete viel Geld, anstatt wie versprochen eine Milliarde an Einsparungen zu bringen. Die Indexierung der Familienbeihilfe hielt nicht vor dem Höchstgericht, Österreich muss Millionen an Kindergeld ans Ausland zahlen. Und die Impfstoffproduktion mit Israel entpuppte sich als ein PR-Gag. Die personelle Bilanz fällt um keinen Deut besser aus: Eilfertige Prätorianer scherten sich wenig um Regeln und verhöhnten alle lästigen Kritiker. Den Rest klärt die Justiz.
Ohne einen Schlussstrich unter das gescheiterte System Kurz, ohne glaubwürdige politische Aufarbeitung wird die ÖVP weiter ohnmächtig von einer Enthüllung in die nächste taumeln, von einer Folge von „House of Kurz“ zur nächsten. Wie sie da wieder herauskommt – und wie nicht –, argumentiert Robert Treichler anhand der Beispiele Democrazia Cristiana und der CDU auf Seite 48. Das schadet nicht nur ihr als Partei, das schadet auch der Demokratie, da hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen recht. Schon jetzt erreicht die Schuldvermutung gegen „die Gaunerpolitiker“ erschreckende Rekordhöhen, Wutkandidaten können mit Attacken gegen „das System“ besorgniserregend punkten.
Kanzler und ÖVP-Obmann Karl Nehammer ist in dieser Woche einen ersten Schritt und vorsichtig auf Distanz gegangen. Weitere Schritte müssen folgen, allen voran ernste Antikorruptions- und Transparenzregeln. Das wäre die Zeit für Neues, diesmal aber wirklich. Nur so wird die Regierung ihre Handlungsfähigkeiten zurückerlangen, die sie dringend braucht. Schließlich gibt es – Stichwort Ukraine, Stichwort Teuerung, Stichwort Energie, Stichwort Klima – auch noch andere Krisen als die Dauerkrise der ÖVP.