Eva Linsinger: Ist Nehammer der richtige Krisenkanzler?
Laute Buhrufe, gellende Pfiffe, schrille „Volksverräter“-Schreie: Bundespräsident Alexander Van der Bellen bekommt derzeit Einblicke in die Stimmungslage der Bevölkerung, wo sich wie in einem Druckkochtopf brodelnd Unmut zusammenbraut. Ob bei der Eröffnung der Festspiele in Bregenz und Salzburg, ob bei der 800-Jahr-Feier der Kleinstadt Eferding – das bedächtige Staatsoberhaupt wird von wütenden Demonstrationen empfangen. Lauter Vorboten, dass der Bundespräsidentschafts-Wahlkampf deutlich ungemütlicher werden könnte, als Van der Bellen sich das ausmalte.
Gewiss: Die Proteste werden gezielt von rechten Gruppen und dem Anti-Corona-Lager befeuert, von einer Massenbewegung sind sie weit entfernt. Bloß: Die Frustration über mangelnde Führung, der Zorn über das politische Personal geht weit über die Buhrufer hinaus und hat sich tief in die Mitte der Bevölkerung eingegraben. Der angesammelte Groll könnte sich in einem Wut-Winter entladen, wie ihn Österreich noch nie erlebt hat.
Die Stimmung ist am Kippen. Nach zweieinhalb Jahren Dauerkrisen – Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Klimakatastrophe, Energiekrise, Teuerung – liegen die Nerven blank, das Vertrauen in die Politik grundelt bei Rekordtiefständen dahin. Aus verflixt nachvollziehbaren Gründen. Denn in den Krisenjahren zeigt sich unabsichtlich, aber eindrucksvoll, dass Österreichs politische Klasse durchaus Schönwetterphasen unfallfrei übersteht, mit ernsthaften Krisen aber heillos überfordert ist.
Beispiele gefällig? Mit Johannes Rauch radebrecht sich mittlerweile der dritte Gesundheitsminister durch das Corona-Wirrwarr, das (durchaus argumentierbare) Ende der Corona-Quarantäne passierte durch „Politik by Chaos“, garniert durch einen Twitter-Ausraster des Ministers. Vertrauensbildende Maßnahmen schauen anders aus. Oder: Die Regierung, wegen Teuerung und Energiekrise massiv unter Druck, inszenierte diese Woche ihren Sommer-Ministerrat in Mauerbach – präsentierte dort aber nichts Neues, sondern referierte nur Bekanntes. Als fulminanter Arbeitsnachweis geht das nicht durch. Das passt zur schlechten Form des Regierungschefs: Kanzler Karl Nehammer ringt selbst bei Routineveranstaltungen wie Landesparteitagen erfolglos um die richtigen Worte und wankt zwischen plattem Populismus (die Absage von Festspieleröffnung und Urlaub) und vermeidbaren Fehltritten in der Außenpolitik (warum bot er einem Demagogen wie Ungarns Premier Viktor Orbán ohne Not eine Bühne?). Schwerer als Detailpannen wiegt die Leerstelle: Eine überzeugende (und überzeugend kommunizierte) Gesamtstrategie gegen „KlimaUkraineEnergieTeuerungsCorona“-Krise blieb die Regierung bisher schuldig. Kann das Regierungsoberhaupt durch die multiplen Krisen steuern? Die Bevölkerung auf den Herbst vorbereiten? Kurz: Ist Nehammer der richtige Krisenkanzler?
Die Zweifel daran mehren sich, selbst in der ÖVP. „Wo ist der Kanzler?“, hieß es in einer Vermisstenanzeige der steirischen Industriellenvereinigung, die wohl mächtigste ÖVP-Politikerin, Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, verlangte mit unmissverständlich-drohendem Unterton „klare Führung in der Regierung“.
In den Anfangszeiten der Corona-Pandemie kamen regelmäßig alle Player, die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen, an einem Tisch zusammen. Derartige Krisenformate fehlen derzeit bitter. Stattdessen ätzt die Wirtschaftskammer gegen die überforderte Energieministerin, die SPÖ-Landeshauptleute poltern gegen den Bund. Jeder gegen jeden, ein heilloses Durcheinander, in Normalzeiten schon nervig, in Krisenzeiten kontraproduktiv. Und die Opposition feixt und fordert Neuwahlen – und hält das bereits für einen ausreichenden Beitrag zur Krisenbewältigung.
Findet sich jetzt, in der wohl schwierigstem Zeit seit 1945, wirklich das beste Personal in der Politik?
Der hehre Beruf Politik muss wieder attraktiver werden, damit sich wirklich die Besten dafür finden.
Diese brennende Frage stellt sich nicht nur in Österreich. Ein „Talent- und Führungsproblem“ in westlichen Demokratien konstatierte kürzlich „Bloomberg“ und legte Politikerinnen und Politikern das Buch „Staatskunst“ des fast 100-jährigen Henry Kissinger nahe. In der Tat mehren sich quer durch Europa die Zeichen, dass die Qualität der Politik erodiert: In Italien warf selbst „Super Mario“ Mario Draghi frustriert das Ministerpräsidenten-Amt weg, in Großbritannien ist eine Favoritin auf den Premierminister-Posten häufiger auf der Fotoplattform Instagram statt in Kabinettssitzungen anzutreffen. Die Liste der Negativbeispiele ist lang – und lässt nur einen Schluss zu: Der hehre Beruf Politik muss wieder attraktiver werden, damit sich wirklich die Besten dafür finden.
Dazu gehört anständige Bezahlung. Nein, das ist kein sogenanntes Politikerprivileg, Politik ist ein Stressberuf unter Dauerbeobachtung der Öffentlichkeit und soll wie eine Top-Management-Position entlohnt werden. Dazu gehört auch ein Recht auf Urlaub, niemand braucht ausgelaugte Politik. Dazu gehört ein wenig Gelassenheit – auch von Medien: Nicht jede Antwort auf komplexe Probleme muss binnen Nanosekunden erfolgen, Nachdenkphasen schaden manchmal nicht.
Die Zeit der Inszenierung und Showpolitik ist vorbei. Gefragt sind jetzt ernsthafte Krisenpolitiker. Daran müssen sich Politik und Öffentlichkeit erst gewöhnen.