Eva Linsinger: Keine Lizenz zum Weiterwursteln
Die Zeit der Ausreden ist vorbei. Das ist eine der Konsequenzen der Corona-Pandemie. Früher konnten Kanzler und Minister bei Problemen aller Art seufzen, dass leider, leider kein Geld vorhanden ist. Oder die Bundesländer widerspenstig sind, die Koalitionspartner unwillig. Jedenfalls alles fürchterlich kompliziert. Die Politik kann nichts machen.
Dieses Sammelsurium an Vorwänden taugte in Österreich stets als Lizenz zum Weiterwursteln, wurde aber durch Corona endgültig ad absurdum geführt. Denn seit im Ausnahmezustand Hunderte Sondergesetze und Fantastilliarden-Pakete im Expresstempo beschlossen wurden, lässt sich nicht mehr verbergen: Das übliche Gesudere vom eingeschränkten Handlungsspielraum der Politik ist blanker Unfug. Die Politik kann zügig und tief greifend handeln-wenn sie nur will.
Kanzler Sebastian Kurz kommt seit den Ausnahmewochen aus den Lobeshymnen für die eigene Regierung kaum heraus und spricht über sich am liebsten im Superlativ: Erster, Bester, Schnellster - größter Krisenkanzler aller Zeiten. Wer sich derart hymnisch preist, kann nicht vor kniffeligen Reformen zurückschrecken.
Höchste Zeit, zentrale Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen und beherzt Endlosbaustellen anzupacken. Denn schonungslos verdichtet, wie unter der Lupe, wurden im Pandemie-Ausnahmezustand all jene Defizite überdeutlich, an denen Österreich seit Jahren laboriert und die noch keine Koalition anzupacken wagte, auch wenn sie sich-wie Türkis-Blau-prahlerisch Reformregierung nannte.
Erstens das bankrotte Pflegesystem. Schon in Vor-Corona-Zeiten dilettierte Österreich herum, fand nur Murks-Varianten wie die 24-Stunden-Betreuung, die teils in den semilegalen Graubereich abrutschte und das Lohngefälle zu Osteuropa ausnutzte. Diese Scheinlösung ist längst an ihr Ende gekommen. Pflegerinnen mussten aus immer weiter entfernten Staaten geholt werden-und blieben bei geschlossenen Grenzen aus. Viel lauter kann der Weckruf, endlich die oft versprochene Pflegereform anzugehen, nicht ausfallen.
Zweitens: Unterbezahlung. In der Corona-Krise stiegen Krankenschwestern, Pflegerinnen, Supermarktkassiererinnen zu öffentlich gefeierten Heldinnen auf. Der Applaus hat aufgehört-und die Gehälter blieben beschämend niedrig.
Drittens die große Bildungsschieflage. Wer ohne Internet, Drucker und Eltern, die bei Aufgaben helfen, zu Hause sitzt, bleibt rettungslos zurück: So lautet das Homeschooling-Zeugnis. Es untermauert den vernichtenden Befund, den OECD und andere Institutionen Österreich seit Jahren ausstellen: Die Herkunft bestimmt weitgehend, wer es aufs Gymnasium oder an die Uni schafft und wer nicht. Das Bildungssystem hingegen verschleudert Talente, Österreich sackt seit Jahrzehnten in den maßgeblichen Rankings ab. Ja, eine Reform ist aufwendig und kompliziert-aber was ist die Alternative? Sich weiter schulterzuckend "Nicht Genügend" von OECD und Co abzuholen? Die innovationsresistenten Blockadeeliten (Stichwort: Lehrergewerkschaft) jeden Reformansatz niederadministrieren lassen?
Viertens das unselige Prinzip Herrschaftswissen. Schön, dass in der Corona-Pandemie Wissenschafter gehört wurden-eine wohltuende Abwechslung zu Phasen, in denen die Politik glaubte, auf Evidenz verzichten zu können. Umso bedauerlicher, dass die Expertisen geheim bleiben. Natürlich hätte die p. t. Bevölkerung ein Recht darauf, zu erfahren, auf welcher Grundlage ihr Grundrechte entzogen wurden. Dieser vordemokratische Zugang und das Prinzip Herrschaftswissen regierten schon vor Corona-Zeiten: Studien vergammeln in Schubladen, weil das Ergebnis nicht passt. Das verstaubte Amtsgeheimnis sorgt für Intransparenz. Nach Gutdünken wird entschieden, wann wer worüber informiert wird. Schluss mit der Geheimnistuerei! Informationen der öffentlichen Hand sind kein Privateigentum, Steuerzahler haben ein Anrecht darauf, zu wissen, was mit ihrem Geld passiert. Höchste Zeit für eine Informationsfreiheits-und Transparenzoffensive! Ausreichend Zusatzargumente dafür liefert täglich der Ibizia-Untersuchungsausschuss.
Österreich braucht dringend einen tief greifenden Modernisierungsschub. Wann, wenn nicht jetzt, bietet sich Türkis-Grün die Chance dafür? An Geld, das der Staat in die Hand nimmt, mangelt es derzeit wirklich nicht, alle anderen Vorwände sind auch obsolet. Möglicherweise wurden einige Regierungsmitglieder aber nicht nach dem Kriterium ausgewählt, ob sie über starke Persönlichkeit, eigene Strahlkraft und-wenn notwendig-Mut zum Widerspruch verfügen. Für braves Verwalten und ideenloses Ja-Sagen taugt die Post-Corona-Phase aber nicht.
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