Leitartikel

Letzte Chance für Türkis-Grün

Die Regierung muss sich nicht sorgen, durch Reformen unpopulär zu werden – denn das ist sie schon. Das kann befreien.

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Bizarre Bilder aus dem Frühsommer 2023 Anfang Jänner: Sessellifte transportieren Wanderer in T-Shirts. Skigebiete sind aper, zwischen grasgrünen Berghängen schlängeln sich groteske Kunstschneestreifen ins Tal. Temperaturrekorde purzeln: 19,7 Grad am Schneeberg, der höchste Wert, seit es Messungen gibt. Der nächste schaurige Superlativ nach dem Extremsommer 2022 mit Jahrhundertdürre, Ernteausfällen, Orkanböen und Überschwemmungen.

Willkommen in der Klimakrise! Sie passiert nicht irgendwann in ferner Zukunft auf fernen Südseeinseln. Österreich liegt, wie der gesamte Alpenraum, mitten im Hotspot all der Wetterextreme, die der Klimawandel befeuert.

Eigentlich ein lohnendes Betätigungsfeld für Grüne  in der Regierung. Wer, wenn nicht die Umweltpartei, müsste die  Extremjahreszeiten, gepaart mit der Energiekrise, als ihren historischen Moment erkennen, vor Konzepten sprühen und unbändigen Ehrgeiz entwickeln, Österreich zum Klima-vorreiterland zu machen. Eigentlich. Doch die Grünen agieren seltsam gemächlich, es fehlt an Kampfeswillen gegen Blockierer. Ganz so, als würde business als usual reichen. 

Beispiele gefällig? Das Klimaschutzgesetz samt verbindlichem Plan für Umweltziele kam über das Stadium eines Entwurfs nie hinaus und versandete in den Mühen des Regierungsalltags. Das Erneuerbaren-Wärmegesetz stockt, die Reform der Umweltverträglichkeitsprüfung auch. Gegen milliardenschwere klimaschädliche Subventionen für Pendlerpauschale und Co gibt es keine einzige Maßnahme.

Wohlgemerkt: Es handelt sich allesamt nicht um irgendwelche Adabeis im Koalitionspakt, sondern um Leuchtturmprojekte der Grünen. 
Erfolge wie das Klimaticket wiegen die Liste an Fehlanzeigen nicht auf, die Konsequenzen sind in Zahlen ablesbar: Das Wirtschaftsforschungsinstitut rechnet penibel vor, dass Treibhausgasemissionen steigen und „die ehrgeizigen Klimaziele Österreichs klar verfehlt werden“. Vernichtender kann man die ersten drei Jahre der ersten Regierungsbeteiligung der Grünen kaum bilanzieren. 

Koalitionspartner ÖVP geht es nicht besser. Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sackt ab, Österreich fällt im europäischen Vergleich deutlich zurück, besonders beim Arbeitsmarkt. Ein peinliches Zeugnis für die Kanzler- und Wirtschaftspartei ÖVP. Es rächt sich bitter, dass die notwendige Reform von Arbeitsmarkt und Arbeitslosengeld abgeblasen wurde. Damit gelang das seltene Kunststück, ausgerechnet in einer Phase, in der händeringend Arbeitskräfte gesucht werden, also ideale Reformvoraussetzungen herrschen, das Herzensprojekt von Arbeitsminister Martin Kocher scheitern zu lassen. Und gleichzeitig Kocher als Hoffnungsträger von ÖVP und Regierung zu beschädigen.

Klingt insgesamt nicht gerade nach einer Regierung mit entschlossenem Gestaltungsdrang, sondern eher nach von Dauerkrisen zermürbten Partnern, die sich gegenseitig keine Erfolge gönnen und partout dem jeweils anderen Punkte bei der Kernklientel vermasseln wollen. Drei Jahre nach ihrer hoffnungsfrohen Angelobung agiert die türkis-grüne Koalition als von Krisen Getriebene – mit reichlich Sand im Getriebe. ÖVP und Grüne werken am Krisenmanagement, schnüren Hilfspakete, tüfteln an Abfederungen. Darin sind sie durchaus erfolgreich – für mehr fehlen aber Elan und gemeinsamer Wille, große Strukturreformen hängen fest.

Es hilft nichts, wenn Kanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler treuherzig versichern, dass zwei Drittel des Regierungsprogramms schon „abgearbeitet“ seien. Erstens klingt „abgearbeitet“ nicht nach beherzter Lust am Gestalten, sondern nach unendlicher Last des Regierens. Das elektrisiert niemanden. Schwerwiegender noch: Das Regierungsprogramm ist zwar erst drei Jahre alt, aber dennoch völlig aus der Zeit gefallen: Es wurde vor Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, Energiekrise vereinbart. Und ähnelt mehr Altpapier als einem Leitfaden.

Das Regierungsprogramm ist zwar erst drei Jahre alt, aber dennoch völlig aus der Zeit gefallen: Es wurde vor Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, Energiekrise vereinbart. Und ähnelt mehr Altpapier als einem Leitfaden.

Sinnvoller wäre es, die angeschlagene Koalition würde für das verbleibende Drittel ihrer Regierungszeit Kernprojekte fixieren und alle Energie in deren Umsetzung stecken. Etwa: Eine bessere Zeit für eine Arbeitsmarktreform kommt nicht. Wenn auch Steuern auf Arbeit sinken, wäre ein Langzeitversprechen erfüllt, an dem viele Regierungen scheiterten. Beim Ende der kalten Progression gelang Türkis-Grün ein Meilenstein, warum nicht einen am sich rasant verändernden Arbeitsmarkt setzen? Oder: Transparenz ist die beste Waffe gegen Korruption – und wird ebenso lang verzögert. Seit Werner Faymann verspricht jeder Kanzler das Ende des Amtsgeheimnisses, 2014 wurde ein Entwurf zum Informationsfreiheitsgesetz verschickt, mehr passierte nie. Karl Nehammer könnte jener Kanzler sein, der nicht von Transparenz schwadroniert, sondern sie umsetzt. Schritte gegen Staatsschulden, Energiekrise und Klimawandel sind ohnehin Pflichtprogramm – die Kür dann moderne Konzepte für das Gesundheits- und Pensionssystem.

Mit derartigen Eckpfeilern könnte Türkis-Grün aus der Defensive kommen. Nein, Landtagswahlkämpfe müssen nicht daran hindern, im Gegenteil: In Niederösterreich und Kärnten brechen durch Wahlversprechen gerade Blockaden beim ewigen Thema Kindergartenplätze auf, das bringt Reformrückenwind.

Auch wenn es paradox klingt: Die Koalition braucht keine Sorgen haben, sich durch Reformeifer unbeliebt zu machen – denn unpopulärer als jetzt kann sie kaum werden. ÖVP und Grüne schaffen in Umfragen gemeinsam gerade 31 Prozent, so weit weg von einer Mehrheit war noch nie eine Regierung. Viel tiefer zu fallen, ist nicht mehr möglich.

Das kann auch befreien. Höchste Zeit für einen Neustart. Höchste Zeit, das Motto „das Beste aus beiden Welten“ neu zu leben. Diesmal aber wirklich.  

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin