Eva Linsinger: Österreich hat ein Korruptionsproblem
Selbst für abgebrühte Politjunkies, die sich längst nicht mehr wundern, was alles möglich ist, gab es diese Woche starken Tobak. Die neuen Nachrichten aus den Abgründen der Innenpolitik im Schnelldurchlauf: Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka reiht sich in die Schar der „Beschuldigten“ ein, der Vorwurf: Amtsmissbrauch. Ungerührt bleibt er Vorsitzender des ÖVP-Korruptions-Ausschusses (ja, so heißt der U-Ausschuss wirklich). In Vorarlberg werden dubiose Geldflüsse vom Wirtschaftsbund an die ÖVP untersucht, die Präsidenten von Wirtschaftsbund und Wirtschaftskammer treten zurück. Durch die desaströse Dauerbaustelle Justiz ziehen sich neue tiefe Gräben: Der Oberstaatsanwalt, der viel Energie darauf vergeudete, die Aufklärungsarbeit der Korruptionsstaatsanwaltschaft zu behindern, steht unter Anklage und ist suspendiert. Die Polizeitruppe, die durch fragwürdigen Ermittlungseifer auffiel, ist entmachtet. Ex-Ministerin Sophie Karmasin kann nur gegen strenge Auflagen das Untersuchungsgefängnis verlassen. Das sind, wohlgemerkt, nur die Alarmsignale schamloser Unkultur einer einzigen Woche.
Selbstredend gilt für alle die Unschuldsvermutung. Doch bereits jetzt lässt sich aus der Unmenge an Skandalen, Chatprotokollen, Verwerfungen und Vorwürfen ein so eindeutiger wie verheerender Befund destillieren: Österreich hat ein veritables und tief sitzendes Korruptionsproblem. Wesentliche Säulen von Staat und Demokratie zeigen sich gefährlich verrottet. Im Machtrausch verwechseln Politiker ungeniert Staat und Partei, achten keine moralischen Grenzen, werden Spitzenbeamte nach Parteibuch ausgewählt. Der politische Wille, diese Unsitten durch Transparenz zu beenden, fehlt. Und die Justiz, jene Instanz, die besonnen und unbeeinflussbar Licht ins Dunkel der Korruptionsvorwürfe bringen sollte, ist massiv beschädigt.
Ohne Vertrauen in eine unabhängige Justiz kann keine Demokratie auf Dauer funktionieren.
Wer das für Alarmismus hält, hat sich zu lange an den schludrigen Umgang mit Sauberkeit und Rechtsstaat gewöhnt. Ohne Vertrauen in eine unabhängige Justiz kann
keine Demokratie auf Dauer funktionieren – eine durch Skandalserien, (Kanzler-)Rücktritte und beklemmende Chat-Einblicke in den ÖVP-Maschinenraum ohnehin wankende Parteiendemokratie wie Österreich schon gar nicht. In der Justiz rumort es zu lange zu laut. Es untergräbt jegliches Vertrauen, wenn in der Justiz parteipolitische Grabenkämpfe toben und Spitzenbeamte sich als willige Erfüllungsgehilfen und politische Vorfeldorganisation der Minister- und Kanzlerpartei ÖVP gerieren und lieber „derschlagen“ statt aufklären. Wildwest-Ideen, etwa jene, Staatsanwälte bespitzeln zu lassen, passen in schlechte Filme, aber nicht in höchste Justizkreise. Justizministerin Alma Zadić ist dringend gefordert, die Justiz grundlegend neu aufzustellen – und zwar mit mehr Elan und Tempo, als sie bisher an den Tag legte.
Nicht nur Zadić muss liefern. Auch der Regierungschef. Bundeskanzler Karl Nehammer schwappt seit seiner Angelobung Anfang Dezember breites Wohlwollen entgegen, nicht ohne Grund: Er hebt sich, in nachdenklichem Auftreten, verbindender Sprachwahl und zurückhaltendem Habitus, wohltuend von der Sebastian-Kurz-Populismus-Show ab. Eine Schonfrist hatte Nehammer sich auch deshalb verdient, weil er seit Amtsantritt als Krisenkanzler fungieren muss: Corona. Ukraine. Wirtschaftskrieg. Gaskrise. Bloß: Das kann kein Grund mehr sein, dass Nehammer vor Handeln in der Korruptions-Krise zurückschreckt. Unverbindlich-freundliche Signale waren ein Anfang, nun braucht es energische Taten.
Denn Parteifreund Wolfgang Sobotka agiert als Poltermeister und türkiser Chat-Verteidiger – ein Rollenverständnis, das als U-Ausschuss-Vorsitzender und als Nationalratspräsident, immerhin nach dem Bundespräsidenten der zweite Mann im Staat, mehr als befremdlich anmutet. Und zwar unabhängig davon, zu welchem Ergebnis die Justiz kommt. Rabiatperle Sobotka wirkt wie die Symbolfigur einer seit Jahrzehnten regierenden Partei, die über keine ordnenden Instanzen mehr verfügt. Nehammer muss als Obmann der ÖVP, die notabene ebenfalls als Beschuldigte geführt wird, aufräumen.
Als Kanzler ebenso. Das beste Rezept gegen Korruption lautet schonungslose Transparenz. Seit zwei Jahren verspricht Türkis-Grün eine Transparenzoffensive, genauso lang wird verzögert, nicht nur von den blockiererprobten Bundesländern. Informationsfreiheitsgesetz, Abschaffung des Amtsgeheimnisses, Neuordnung der Parteienfinanzierung ruhen auf der langen Bank. Im November schickten die Grünen einen Entwurf zum Korruptionsstrafrecht an die ÖVP. Seither gab es zwei Gesprächstermine dazu. Binnen fünf Monaten. Rasantes Tempo und ehrlicher Wille, den Korruptions-Sumpf endlich trockenzulegen, schauen anders aus.
Weiter Zuwarten ist gefährlich, für den Staat, für die Justiz. Viel Zeit bleibt Türkis-Grün nicht mehr. Sonst ist das Vertrauen endgültig verspielt.