Politik in der Tabu-Falle
Sogar der Start der Versöhnung ging daneben. Eigentlich wollte die Regierung die tiefen Gräben überwinden, die seit Corona die Gesellschaft zu zerreißen drohen, und eine Kommission unaufgeregt die Pandemie-Politik von A wie Antigen-Tests bis Z wie Zwei-G-Regel bilanzieren lassen. Klingt nach ausgezeichneter Idee, mehr noch: nach einem notwendigen Kontrapunkt zu den Dauererregungsspiralen, die gereizte Stimmungen produzieren. Kanzler Karl Nehammer, der sonst bevorzugt in schneidigen Tönen spricht, „Feuer frei“ gibt oder gar „die Flex“ sein will, wollte betont freundlich „die Hand reichen“. Lange währte die Befriedung nicht, der Corona-Dialogprozess artete in Disput aus, bevor er überhaupt begonnen hatte: Zu „expertenhörig“ war die Regierung, tönte Nehammer – was Wissenschafter als Vorab-Schuldzuweisung verstanden und als „skandalös“ geißelten. Der Rest war Hickhack.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie schwer der Übergang vom patzigen Dogma „alles richtig gemacht“ zur offenen Selbstkritik fallen kann und in welchem Ausmaß die Nerven blank liegen: Damit war er unfreiwillig, aber eindrucksvoll erbracht. Noch Fragen, wie kompliziert es wird, ohne gegenseitige Vorwürfe auf Augenhöhe zu diskutieren? Wie zerrüttet selbst das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft ist?
Leicht wird der Corona-Dialog nicht. Nicht nur, weil die FPÖ an Versöhnung null Interesse zeigt. Sie agiert lieber als Zornsammelstelle.
Von der deutschen Ex-Kanzlerin Angela Merkel stammt die kluge Erkenntnis, dass Corona eine „demokratische Zumutung“ darstellt. Schon deshalb braucht es eine Bilanz des Ausnahmezustands, in der viel verordnet, aber wenig diskutiert wurde. Das Vertrauen in das politische System grundelt auf kümmerlichen Werten, selbstredend ist es höchste Zeit für eine fundierte Aufarbeitung der Pandemie-Politik: Waren alle Lockdowns notwendig? Schulschließungen richtig? Corona-Hilfen treffsicher (und wer außer dem Seniorenbund muss noch zurückzahlen)? Das Testsystem fünf Milliarden Euro wert? Wie konnte die blamable Hau-Ruck-Aktion Impfpflicht, ausgeheckt im Raucherkammerl der Landeshauptleutekonferenz, passieren? Welche Fehler haben wir Medien gemacht? Auf all diese Fragen braucht es Antworten, keine Ausreden. Je ruhiger und seriöser, desto besser.
Leicht wird das nicht. Nicht nur, weil die FPÖ an Versöhnung null Interesse zeigt. Sie agiert lieber als Zornsammelstelle. Mit einer „Bin dagegen“-Partei ist kaum Dialog zu führen. Bloß: Auch andere Parteien tun sich zusehends schwer damit, (ergebnis)offen und ohne simple Schwarz-Weiß-Antworten über komplexe Fragen zu diskutieren, Argumente abzuwägen und Fakten auszutauschen. Kurz: Die hohe Kunst der politischen Debatte zu pflegen.
Zu besichtigen ist diese Untugend anhand der Nicht-Diskussion, was der tiefe Einschnitt Ukraine-Krieg für Österreichs Sicherheitspolitik bedeutet. Ist die Neutralität mehr als ein überholtes Klischee, das neben Lipizzanern und Mozartkugeln im heimischen Identitätsschränkchen verstaubt? Ist sie ein wertvoller Beitrag zur Vermittlung in Konflikten oder bloß bequemes
Wegschauen? Seit einem Jahr drucksen sich die Parteien um diese heiklen Fragen herum und scheuen den offenen Diskurs. Nur längst abgetretene Politiker wie Ex-Verteidigungsminister Werner Fasslabend wagen es, Klartext zu sprechen und die Neutralität für überholt zu erklären. Der Rest ist Schweigen – unter dem lapidaren Verweis, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Neutralität wertschätzt. Das stimmt schon, bloß: Die Mehrheit zahlt auch ungern Steuern. Und keine Partei käme deshalb auf die Idee, Steuern komplett abzuschaffen.
Die gesammelten Nicht-Antworten auf die Herausforderung, was der Ukraine-Krieg veränderte, führt zu nachgerade paradoxen Situationen. Österreich beteiligt sich mit 4,7 Milliarden Euro Finanzierung an der EU-Militärhilfemission in der Ukraine – mit dem Argument: Unproblematisch für die Neutralität, weil EU-Beschluss. Österreich bildet auch Soldaten aus Nato-Staaten wie Ungarn oder Tschechien auf heimischen Panzern aus – Motto: unproblematisch für die Neutralität. Ukrainische Soldaten werden hingegen zwar vom ebenfalls neutralen Irland geschult, auf österreichischen Panzern aber nicht – weil es angeblich nicht zur Neutralität passt. Man muss keinVölkerrechtler sein, um das inkonsequent und unlogisch zu finden.
Durchaus möglich, dass ein Nato-Beitritt keine gute Lösung für Österreich und eine Neudefinition der Neutralität besser ist. Aber: Könnte die Politik vom Bundespräsidenten abwärts ernsthaft darüber diskutieren, Pro und Contra erörtern, Expertise einholen? Das Tabu-Thema einfach zu vermeiden, Debatten mit „brauchen wir nicht, will niemand“ abzuwürgen ist gewiss die schlechteste Variante.
Dieselbe untaugliche Methode, sich lieber nicht auf inhaltliche Details einzulassen, wird auch bei der Teilzeit-Problematik angewandt. Wirtschaftsminister Martin Kocher stellte höchst ungeschickt, aber prinzipiell hochberechtigt die Frage, ob es klug ist, dass Österreich fast Teilzeit-Europameister ist. Und rudert, erschreckt von den harschen Reaktionen, prompt zurück. Schade. Denn eine ehrliche Debatte ohne Scheuklappen zum Beispiel darüber, warum die Hälfte der Kindergartenplätze auch 2023 nicht mit einem Vollzeit-Job vereinbar ist, warum Steuern auf Arbeit hartnäckig überhoch und welche Anreizssysteme sinnvoll sind, oder welche Zuwanderung notwendig ist, wäre gerade in Zeiten, in denen alle Unternehmen händeringend Arbeitskräfte suchen, dringend notwendig. Auch dieses Tabu-Thema haben die Parteien lieber vermieden und sich statt dessen in Ideologie-Scharmützeln verloren.
Das Diskutieren scheinen alle verlernt zu haben. Vielleicht kann der Corona-Dialogprozess ein Neustart dafür sein.