Eva Linsinger: Schattenregierungsboxen
Blöderweise war das Mikrofon eingeschaltet und der despektierliche Satz „Haltet’s die Goschen da unten“ quer durch den Plenarsaal des Parlaments zu vernehmen. Er kam Anfang der 1980er-Jahre aus dem Mund von Anton Benya und war höchstens in seiner Deutlichkeit, nicht aber in seiner Tendenz überraschend: Benya hielt von hitzigen Parlamentsdebatten herzlich wenig. Kein Wunder, hatte er doch als Gewerkschaftsbund-Präsident jenes unselige Prinzip der Schattenregierung miterfunden, bei dem mächtige Männerrunden bevorzugt hinter verschlossenen Türen Kompromisse ausmauschelten. Gewählte Volksvertreter im Parlament oder andere Störenfriede waren nur als Statisten vorgesehen.
Benya ist lange tot, die Tuschel-Nebenregierung der Sozialpartner aus guten Gründen Geschichte, Österreich längst Mitglied der EU. Nur das Prinzip „Haltet’s die Goschen da unten“ lebt – auch wenn niemand mehr so tollpatschig wäre, es derart derb auszusprechen. Heutzutage formuliert Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds, feiner ziseliert: „Um den Euro zu retten, brachen wir Recht.“ Klingt eleganter. Bedeutet aber dasselbe: Mitsprache? Spielregeln? Unerwünscht!
So viel Macht für die Notenbanker war nie – und so wenig Demokratie in Europa auch nicht
Die Krise geht in ihr siebtes Jahr; fast fünf Jahre ist es her, dass der erste Euro-Rettungsschirm aufgespannt wurde. Seither wird in der Abwehrschlacht um die Gemeinschaftswährung mit Notverordnungen, Sonderparagrafen und Fantastilliardenpaketen operiert, meist in hektischen Nachtsitzungen, stets am Rande des Rechtsbruchs. Ob das den Euro und Griechenland letztlich retten kann, ist ungewiss – eine eindeutige Krisengewinnerin steht aber fest: die Europäische Zentralbank (EZB). Vor dem Krisenjahr 2008 bestand der nicht gerade nervenzerfetzende Job von EZB-Bankern daraus, geräuschlos die Inflation zu deckeln. Seit 2008 aber ist die EZB zur mächtigsten politischen Institution in der Eurozone aufgestiegen: Sie steuert Zinsen und Geldmengen, sie beaufsichtigt die 120 größten Banken, sie kontrolliert Regierungen, sie bestimmt als Mitglied der Troika, ob in Griechenland Pensionen gekürzt werden, und sie kann lapidar weit reichende Beschlüsse wie jenen verkünden, Staatsanleihen um 1000 Milliarden Euro zu kaufen.
So viel Macht für die Notenbanker war nie – und so wenig Demokratie in Europa auch nicht.
Der EZB-Rat muss sich nie einer Wahl stellen, sich vor keinem Parlament rechtfertigen, selbst milliardenschwere Beschlüsse nie öffentlich argumentieren – im Gegenteil: Bis Jänner galt die Regelung, dass die Protokolle von EZB-Sitzungen 30 Jahre lang unter Verschluss zu halten sind, so als handelte es sich um Geheimcodes für den Abschuss von Atomraketen. Solche Geheimniskrämerei mag für eine dröge Institution, die lediglich die Inflation kontrolliert, angemessen gewesen sein – für die energische Eingreiftruppe Zentralbank, die sich zur europäischen Ersatzregierung aufgeschwungen hat, taugt sie nicht. Oft wurde das Demokratiedefizit in der EU beklagt, nie war es mehr Realität als in Krisen-Europa.
Kurioserweise ist das am allerwenigsten der EZB selbst vorzuwerfen. Regierungen zauderten und zögerten, Staatschefs stritten – und die Notenbank stieß ins Machtvakuum vor und erwies sich als einzige handlungsfähige Institution. Ohne ihr resolutes Eingreifen wäre der Euro höchstwahrscheinlich schon Geschichte. Das war, als Noteinsatz, gerechtfertigt. Bloß: Mittlerweile ist der Noteinsatz zur Dauersituation, die Demokratiebeugung zum Normalzustand geworden.
„Die EU hat sich von einer Rechtsgemeinschaft in eine Hauruck-Gesellschaft verwandelt“, moniert der deutsche Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof, und er steht mit seiner Einschätzung keineswegs allein. Rechte und linke Demonstranten mit Springerstiefeln und „Fuck EZB“-Regenschirmen vor der neuen Bank-Zentrale in Frankfurt, der Zulauf zu radikalen Parteien, öffentliche Misstrauenserklärungen wie jene des Schriftstellers Josef Haslinger sind alle Ausdruck desselben anschwellenden Unbehagens: Wer steuert eigentlich Europa? Wohin? Und wann können wir endlich darüber reden?
Die intransparenten Proporz-Verhältnisse waren ein Geburtshelfer von Jörg Haiders Karriere
Ewald Nowotny, Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank, zeigte sich von der Schelte Haslingers „betroffen“ und will den „Dialog mit den Kritikern“ aufnehmen, wie er vergangene Woche im „Standard“ schrieb. Das ist löblich und höchst an der Zeit: Wer wie Politiker agiert, muss auch wie Politiker Rechenschaft ablegen. Noch zielführender wäre allerdings Variante B: die Zentralbankverwaltungswirtschaft und die Schattenregierung in der Eurozone zu beenden. Dafür müssten allerdings die Politiker aus ihrer Lethargie erwachen, Entscheidungen nicht mehr an die EZB delegieren, sondern endlich wieder das machen, wofür sie eigentlich gewählt wurden: Politik.
Gerade Österreich hat Erfahrungen, wohin der Unmut über „das System“ und über geheimnisvolle Schattenregierungen führen kann. Die intransparenten Proporz-Verhältnisse waren ein Geburtshelfer von Jörg Haiders Karriere.
Kein Wunder: Wer das Gefühl hat, sonst nicht mitreden zu können, gibt seine Stimme bevorzugt Schreihälsen.