Eva Linsinger: Sebastian Schüssel – oder Werner Kurz?
Sebastian Kurz war 14 Jahre alt an jenem denkwürdigen 4. Februar 2000, als Schwarz-Blau angelobt wurde, einem Tag, der sich tief ins kollektive Gedächtnis auch nur mäßig Politikinteressierter eingebrannt hat. Die Ablehnung reichte damals tief in sonst ganz und gar moderate Kreise hinein. Sogar Paradevertreter des distinguierten Wiener Bürgertums, Typus Perlenkette oder Siegelring, klirrten mit Schlüsseln, um ihren Protest gegen die Regierung Schüssel kundzutun. Die Minister galten als die Parias von Europa. Abgeschirmt von Polizeikolonnen, schlichen sie unterirdisch zur Angelobung, eisig empfangen vom Bundespräsidenten, begleitet von empörten Aufschreien aus dem In- und Ausland.
Diesmal surft die neue ÖVP/FPÖ-Regierung ohne Störwellen in ihre ersten Wochen, freundlich begrüßt in Brüssel und Paris, begleitet von medialem Wohlwollen. Selbst erbitterte Gegner konnten sich allerhöchstens zu Mini-Demonstrationen aufraffen. Mehr Widerstand war nicht.
Das bedeutet, so paradox es klingen mag, einen Vor- und einen Nachteil für die Regierung Kurz zugleich. Der Vorteil: Regieren funktioniert naturgemäß kuscheliger, wenn man nicht ständig Wutschreie überbrüllen muss. Der Nachteil: Anders als die Koalition seines großen Lehrmeisters Wolfgang Schüssel verfügt Sebastian Kurz über keine schützende Nebelwand aus Protesten und EU-Sanktionen. Hinter dem trotzigen Patriotismusstück „Wir gegen die“ – die Opferrolle gehörte stets zu den Kernkompetenzen der Rechtspopulisten – ließen sich Dissonanzen innerhalb der Regierung, schmerzhafte Beschlüsse und allerhand andere Misstöne einige Monate lang kaschieren. Erst im September 2000, als die EU ihre Maßnahmen einstellte, wurden die Realitäten von Schwarz-Blau I augenscheinlich.
Über eine solche Schonfrist verfügt die Regierung Kurz nicht. Diesmal tritt die Charakteristik der Koalition recht unmittelbar zutage, und speziell die FPÖ hält es auch nicht mehr für notwendig, irgendetwas zu verschleiern, weder ihr Faible für stramm rechte Kabinettsmitarbeiter noch ihre inhaltlich bizarren Prioritätensetzungen: Mehr Rauchzonen! Gib Gummi auf der Autobahn! Weniger Radarkontrollen! Berittene Polizei! Müßig die Frage, ob die Zukunft Österreichs wirklich an diesen schrulligen Nebenschauplätzen entschieden wird.
Die Regierung Kurz wird nicht zuletzt daran gemessen werden, welche Grundstimmung sie erzeugt oder verstärkt – eine kleingeistig-ängstliche oder eine mutig-optimistische.
Aus guten Gründen urgiert Kanzler Kurz, die neue Regierung an ihren Taten zu messen. Ihr Start fällt in die ökonomisch rosigste Phase seit Langem: Die Konjunktur brummt, die Arbeitslosigkeit sinkt. Nach zähen Jahren der Finanzeurowirtschaftsflüchtlingskrisen kann nun wieder Optimismus verbreitet werden, gerade von einer Koalition, die für sich in Anspruch nimmt, alles neu, anders, besser machen zu wollen. Sebastian Kurz hat im Laufe seines Politikerlebens mehrmals bewiesen, dass er über die Gabe der Wandlungsfähigkeit ebenso verfügt wie über die ausgeprägte Witterung dafür, welche politische Grundhaltung welcher Zeit angemessen ist.
Schwarz-Blau I ist verdammt lange her. Mancher Protest gegen manche der damaligen Maßnahmen wirkt heute nachgerade putzig – etwa jener gegen Deutschkurse für Zuwanderer. Das erscheint anachronistisch und stammt in der Tat aus einer Zeit, in der Migration träumerisch verklärt und vor allem im linken Mainstream beteuert wurde, dass es keinerlei Probleme gebe – nicht in Schulen, nicht im Sozialsystem und auch sonst nirgends.
Mittlerweile hat sich die Stimmung ins Gegenteil verkehrt: Überall werden Probleme und ausschließlich Probleme geortet. Das ist genauso falsch wie die frühere Augen-zu-Haltung – und genauso gefährlich. Gehässigkeit, Niedertracht und Aggression haben ein besorgniserregendes Level erreicht. Wer daran zweifelt, muss nur die unterirdischen Kommentare zu den Meldungen über das Neujahrsbaby Asel oder den Stromtod eines Flüchtlings lesen. Selbst das Kleinformat „heute“ hielt es für geboten, den Hetz-Postern ein „Reißt euch mal zusammen!“ entgegenzuschleudern.
Höchste Zeit, dass auch die Politik reagiert. Die Regierung Kurz wird nicht zuletzt daran gemessen werden, welche Grundstimmung sie erzeugt oder verstärkt – eine kleingeistig-ängstliche oder eine mutig-optimistische.
Selbst den erbittertsten Gegnern von Wolfgang Schüssel nötigte die Tatsache Respekt ab, dass ihm das unambitionierte Motto „Hauptsache Kanzler“ nie genügte, sondern er ernsthaft gestalten, ja gar verändern wollte. Auch daran muss sich Schwarz-Blau II messen lassen: ob Sebastian Kurz das Zeug hat, in Schüssels Fußstapfen zu treten, oder ob er dem zweiten Langzeitkanzler seit 2000 nacheifert: Werner Faymann, dem Regierungschef ohne erkennbaren Gestaltungswillen, der vor allem nirgendwo anecken wollte.
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