Leitartikel

So wird die FPÖ ins Kanzleramt befördert

ÖVP und SPÖ irrlichtern und bieten Politik zum Abgewöhnen. Das nützt vor allem einem: Herbert Kickl.

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In der heimischen Innenpolitik scheinen alle Dämme zu brechen. Die traditionellen Großparteien ÖVP und SPÖ, jahrzehntelang in staatspolitischer Verantwortung Säulen der Republik, zeigen gehörige Zerfallserscheinungen und geraten gefährlich ins Wanken. 

Die ÖVP, weil sie in ihrem Kernland Niederösterreich frei nach dem Motto „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an“ entgegen den Wahlversprechen einen Kniefall vor Impfgegnern macht, einen Koalitionspakt des Kleingeists mit der FPÖ eingeht – und Prinzipien und Vernunft dem Machterhalt opfert. Schon die Angelobung lieferte einen Vorgeschmack, wie ungemütlich sich diese ungeliebte Zusammenarbeit für die ÖVP gestalten wird: Die FPÖ demütigte Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner durch ein blamables Wahlergebnis und Extrastimmzettel schon an Tag eins. Mehr öffentlich zur Schau getragene Missachtung für einen Regierungspartner war selten. Das einstige Machtzentrum Niederösterreich ist schwer beschädigt, über eine andere Stärke-Zentrale verfügt die ÖVP derzeit nicht.

Die SPÖ wiederum, weil sie tolldreist und zynisch das eigentlich spannende Wagnis Mitgliederbefragung zur grotesken Farce degradiert: Aus der Basisdemokratie wird eine trashige Show à la „Das rote Dschungelcamp“ oder „Die SPÖ sucht den Superstar“, alle dürfen kandidieren, um genaue Regeln scheint sich niemand geschert zu haben. Strategische Planung? Durchdachtes Konzept? Fehlanzeige. Daran haben die Kontrahenten offenbar keine Gedanken verschwendet. Wenig überraschend nutzen Störenfriede das Vakuum. Sogar die FPÖ Steiermark füllte das SPÖ-Mitgliedschaftsformular aus, Juxkandidaten meldeten sich. Entweder gibt es in der SPÖ-Führung niemand mehr, der das Polit-Handwerk halbwegs beherrscht und es unfallfrei schafft, ein Prozedere festzulegen, das nicht im programmierten Chaos mündet. Oder derjenige Teil der zerstrittenen Partei, der ohnehin immer gegen die basisdemokratische Befragung war, gibt die Mitbestimmung absichtlich der Lächerlichkeit preis. Welche der beiden Varianten auch immer gruseliger erscheint, der Effekt ist derselbe: Der zehrende Machtkampf in der SPÖ ist prolongiert, womöglich noch für Monate, die einst stolze Partei waidwund. 

Wenn die zwei bisher dominanten Parteien, jede auf ihre Art, orientierungslos irrlichtern und vor allem Politik zum Abgewöhnen produzieren, hilft das dem feixenden Dritten: Herbert Kickl und seiner FPÖ. Bis vor Kurzem galt er als Radau- und Krawallmacher, der gegen das „System“ und alles, was er dafür hält, anstürmt. So jemand stilisiert sich selbst gern als „Outlaw“ und steht naturgemäß am Rand des politischen Spektrums. Nun ist die FPÖ zurück im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und Dreh- und Angelpunkt der Innenpolitik. Das Etikett „zu radikal“ trug Kickl bis quasi gestern, durchaus auch in der eigenen Partei. Mittlerweile aber wird sich niemand mehr wundern, wenn Kickl auch als Bundeskanzler möglich ist.

Auch deshalb wogt die Empörung über Schwarz-Blau in Niederösterreich derart hoch. Selbst hartgesotten-abgebrühte Politjunkies, die sogar seltsame Kapriolen der Innenpolitik lange nur mehr achselzuckend zur Kenntnis nehmen, kommen bei Personal und Programm nicht aus dem Staunen heraus. Beispiele gefällig? Hubert Keyl sitzt nun für die FPÖ im Landhaus, jener Jurist, der öffentlich gegen die Seligsprechung des katholischen Kriegsdienstverweigerers und Nazi-Opfers Franz Jägerstätter protestierte mit: „Einen Verräter soll man verurteilen.“ Derartige Haltung verstieß bisher gegen den Grundkonsens der Zweiten Republik. Nun sitzt sie mitten in der Riege einer Regierungspartei. Wenn das zum neuen Normal wird, werden die Grenzen anders gezogen. Oder: Symbolische Duftmarken gegen Corona-Impfung, Gender-Sternchen und Mehrsprachigkeit in Schulen mögen, je nach Standpunkt, für belustigte Schenkelklopfer oder helle Aufregung sorgen – an drängenden ökonomischen Problemen wie hohen Wohn- und Energiekosten oder dem grassierenden Arbeitskräftemangel, unter dem die Wirtschaft stöhnt, ändern sie gar nichts. 

Die FPÖ feierte immer dann Höhenflüge, wenn ÖVP und SPÖ schwach und mit sich selbst beschäftigt waren.

Die SPÖ hat dem nichts entgegenzusetzen, mehr noch: Eine gewisse Mitschuld an Schwarz-Blau ist ihr nicht abzusprechen. Die neue Parteispitze in Niederösterreich hat sich verzockt. Inhaltlich ist die SPÖ ohnehin abgemeldet, zu eigentlich urroten Themen wie der richtigen Hilfe gegen hohe Mieten ist sie nicht zu vernehmen. Zu beschäftigt ist sie mit internen Querelen, zu überfahren von den Masseneintritten neuer Parteimitglieder, die alle mitbestimmen – und weder Pamela Rendi-Wagner noch Hans Peter Doskozil an der Parteispitze wollen. Das Projekt „Frag die Basis“ ist den Parteigranden entgleist.

Sei es in den 1990er-Jahren, sei es ab 2015: Die FPÖ feierte immer dann Höhenflüge, wenn ÖVP und SPÖ schwach und mit sich selbst beschäftigt waren. Ihr inhaltlich entgegenzukommen, auch das lehrt die lange österreichische Erfahrung mit dem Rechtspopulismus, bremst sie nicht, im Gegenteil: Die FPÖ wird immer die radikaleren Vorschläge und die lauteren Schreihälse haben.

Damit ebnet man nur Herbert Kickl den Weg ins Kanzleramt. Wollen ÖVP und SPÖ das wirklich?

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin