Eva Linsinger: Willkommen in der Realität!
Am Anfang gab er sich supercool: „Ich mach Clint Eastwood. Wir reiten in die Stadt – und der Rest ergibt sich.“ Derart westernheldenlässig tönte Werner Kogler, als der Höllenritt Türkis-Grün begann – getragen von einer Welle der (medialen) Vorschusssympathie für die scheinbar unmögliche Regierungspaarung. 47 Verhandlungstage später klingt der Grünen-Chef ernüchtert, fast so, als hätte er einen Teil seiner Leichtigkeit verloren: „Demokratie heißt auch, Kompromisse nicht zu denunzieren.“ Und: „Es werden sich lange nicht alle Punkte des Übereinkommens wie ein grünes Wahlprogramm lesen.“ Ein Satz mit Potenzial zur Untertreibung des Jahres.
Willkommen in der Realität!
Die erste Regierungsbeteiligung in der Königsliga Bund bedeutet für die Grünen auch ein Rendezvous mit der politischen Wirklichkeit, allerhand bittere Erkenntnisse inklusive – etwa diese: Gewiefte Techniken der Macht gehören zu den Kernkompetenzen der Langzeit-Regierungspartei ÖVP. Wer mit ihr verhandelt, bekommt recht deutlich eine Lektion erteilt, dass ein Wahlergebnis von 13,9 Prozent nur eine blasse grüne Handschrift und wenige – und inhaltlich ausgedünnte – Ministerien ermöglicht. Oder: Das Thema Migration rangierte im Wahlkampf 2019 zwar weit hinter dem Megatrend Klimaschutz, doch Law-and-Border-Politik bildet nach wie vor den Markenkern von Sebastian Kurz. Punkt, keine weitere Debatten. Die Konsequenz: In Teilen des Koalitionsprogramms sind Unterschiede zu Türkis-Blau maximal mit der Lupe auszumachen – von Sicherungshaft bis Kopftuchverbot finden sich Hardliner-Duftmarken, die Grüne in (außerparlamentarischen) Oppositionszeiten lautstark als unmenschlich gegeißelt hätten.
Wenig Wunder, dass es an der grünen Basis knirscht und knarzt. Ob und, vor allem, wie deutlich der Bundeskongress seinen Sanctus gibt, ist auch ein Zeichen dafür, ob die Grünen bereit sind, ihre Reifeprüfung in Pragmatismus abzulegen und sich einzugestehen: In der Opposition kann man stets ohne Abstriche für das Gute, Schöne und die sofortige Weltrettung eintreten. Regierungsverantwortung hingegen kann zäh und unersprießlich sein – jedenfalls nicht so glorios, wie sich manch Grüne erträumt hatten.
Es wäre eine wohltuende Abwechslung, wenn Österreich durch ein Zukunftsexperiment mit Ökoeinschlag Aufsehen erregen könnte.
Ob dem Sekundentriumph bei der Wahl der Katzenjammer auf der Regierungsbank folgt, ob sich die latente Unzufriedenheit mit dem Erreichten zum grollenden Unmut auswächst oder vielmehr die Gewissheit siegt, dass die Möglichkeit der Mitgestaltung die bitteren Kompromisspillen wert ist, wird entscheidend an der Kanzlerpartei ÖVP liegen. Lässt sie die unerfahrenen Regierungsnovizen eiskalt auflaufen? Setzt sie ihren Überhang an Personal und das Know-how in Ministerialbürokratie zur Dominanz ein und torpediert grüne Ziel-1-Themen wie die Ökosteuerreform? Entwickelt sie gar einen gewissen Machtrausch? Oder erinnert sie sich an die Zeit vor 2017 zurück und berücksichtigt, dass ein Juniorpartner Luft zum Atmen und eigene politische Signale braucht?
Antworten auf diese Fragen zeichnen sich erst schemenhaft ab. In den ersten Koalitions-Wochen wird das Bild klarer und das Wie des neuen Regierens zeigen, ob das Experiment an der Realität zerschellt. Schon jetzt steht fest: Türkis-Grün ist und bleibt ein Wagnis – wohlgemerkt für beide Parteien. Die Unterschiede in Habitus, Prioritäten und Parteikultur sind enorm und wiegen schwer. Beide Parteien gehen das Risiko bewusst ein, denn die Argumente für Türkis-Grün gelten unvermindert: Es wäre eine wohltuende Abwechslung, wenn Österreich durch ein Zukunftsexperiment mit Ökoeinschlag Aufsehen erregen könnte – und nicht mit ewiggestrigen Aus- und Einzelfällen (Stichwort Rattengedicht); oder mit einem zum Fremdschämen peinlichen Video, in dem „Red Bull Brothers from Austria“ mit Allmachtsfantasien protzen; oder mit einer nach unten offenen Skala der Niedertracht (Stichwort „Ausreisezentren“).
Das Projekt Türkis-Blau endete in rauchenden Trümmern; Gerichte und Korruptionsstaatsanwaltschaft werden noch Jahre mit den Aufräumarbeiten beschäftigt sein. Türkis-Grün hat das Zeug, eine echte Wende einzuläuten, im besten Fall für die Aufweichung befestigter Lager in einem gespaltenen Land. Wenn sogar grüne Basiswappler und türkise Schnösel gemeinsam am Ministerratstisch sitzen können, erscheinen auch andere Gräben überwindbar. Und die Chance intakt, dass die Regierung fünf Jahre durchhält. Türkis-Grün müsste ein echtes Interesse daran haben – die Grünen, weil sie den Praxistest als Regierungspartei bestehen wollen, und die ÖVP, weil unter Obmann Sebastian Kurz die Koalitionen mit SPÖ (2017) und FPÖ (2019) vorzeitig platzten. Bei einem neuerlichen frühen Koalitions-K.-o. würde auch den eingefleischtesten Kurz-Fans dämmern, dass nicht immer nur die anderen schuld sind.
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