Kommentar

4600 Euro Mindestsicherung - das kommt natürlich in Syrien an

Wie auch immer man zur Höhe steht: Von der alten Erzählung, dass solche Summen keine Auswirkungen auf die Motivation von Zuwanderern haben, sollte man sich verabschieden.

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In Wien ist ein Streit um die Höhe der Mindestsicherung entbrannt. Anlass ist eine syrische Familie mit sieben Kindern, die pro Monat 4600 Euro Mindestsicherung erhält, wie "Heute" berichtete. Nicht eingerechnet ist die Familienbeihilfe, die jedem Kind in Österreich zusteht. Die FPÖ schießt aus allen Rohren gegen diesen "Geldregen". Der Wiener Soziallandesrat Peter Hacker (SPÖ) schießt zurück und rechnet die Kosten vor, die in Österreich für Kinder anfallen. Jedes Kind brauche Essen, Kleidung, Schulsachen. FPÖ-Politiker würden an einem Abend mehr im Wirtshaus liegen lassen, als ein Kind monatlich über die Mindestsicherung bekäme, sagte er in Manier von Ex-Bürgermeister Michael Häupl.

Großfamilien sind die Ausnahme

Dieser Mindestsicherungs-Streit ist eine weitere Facette der Diskussion über den Familiennachzug aus Syrien. Wie profil im März umfassend in einer Coverstory beschrieb, setzte dieser im Jahr 2023 voll ein. Mit bis zu 700 Kindern zwischen drei und 14 Jahren, die monatlich neu in Wien landeten (wortwörtlich am Flughafen Schwechat).

Eines vorne weg: Dass ein anerkannter Flüchtling aus Syrien seine Frau und sieben Kinder nachholt, ist die große Ausnahme. Es gibt solche Fälle. profil hatte mit einer achtköpfigen Familie Kontakt. Doch laut Rotem Kreuz, das den Familiennachzug betreut, holt ein Vater im Durchschnitt zwei bis drei Kinder nach. Das liegt auch daran, dass die Väter noch vergleichsweise jung waren, als sie ab 2020 wieder verstärkt nach Österreich flüchteten.

Bestens informiert über Österreich

Was bei den Recherchen aber auch klar wurde: Viele Väter waren bereit gut informiert, wie Österreich funktioniert, bevor sie sich auf den Weg machten. Weil Bekannte und Verwandte bereits mit der ersten Fluchtwelle ab 2015 gekommen waren und alle Aufnahmeprozesse durchlaufen hatten: Vom Antrag auf Asyl, auf Mindestsicherung, bis zur Arbeits- und Wohnungssuche. Übers Smartphone tauschen sich diese Familien und Bekannten zwischen Syrien und Österreich ganz selbstverständlich und regelmäßig aus. 

Ein Vater aus Nordsyrien hatte bereits acht Cousins in Österreich, bevor zuerst er und dann seine Familie nachzog. Ein anderer, der bereits Asyl in Österreich hatte, tauschte sich täglich mehrmals mit seiner Frau in Syrien über Videotelefonie aus, bevor er sie nachholte.

Es wäre eine Beleidigung der Intelligenz dieser Menschen, dass sie nicht genau wissen, wie viel Geld sie in Österreich bekommen für sich und ihre Kinder. Das würde auch dem natürlichen Versorgungstrieb widersprechen, sich nicht genau darüber zu informieren.

Der ideologische Streit um die "Pullfaktoren"

Von der alten Erzählung, wonach Sozialleistungen in Zielländern keine Auswirkung auf die Fluchtmotivation haben ("kein Pullfaktor"), sollte man sich deswegen verabschieden. Das war höchstens in der chaotischen Anfangsphase des Syrienkrieges so, als Menschen nicht genau wussten, wo sie landen.

Natürlich gibt es viele andere Motive, zu fliehen. NGOs und manche Migrationsexpert:innen wiesen auch deswegen daraufhin, weil der Verweis auf den "Pullfaktor Sozialhilfe" meist aus der politisch rechten Ecke kam. 

Jetzt sind die bestehenden Netzwerke und Informationsflüsse in den Communities in Zeiten des Smartphones aber zu dicht und durchlässig, um Geld als Pullfaktor zu negieren.

Schule und Pommes für alle

4600 Euro im Monat. Das ist fast das doppelte des aktuellen syrischen Jahresgehaltes (2700 Euro). Wobei jene Syrer, die seit 2020 kamen, daheim wohl darunter gelegen wären. Denn nicht wenige sind - auch kriegsbedingt - Analphabeten in der eigenen Sprache.

Bei der Sozialhilfe geht wie immer beim Einkommen um den Vergleich. Vergleicht man die Summe mit den Verhältnissen in Syrien, ist Wien ein Jackpot. Vergleicht man die Summe mit den Kosten für jedes andere Kind in Österreich, hilft es Großfamilien, gut über die Runden zu kommen. Mit einer halbwegs geräumigen Wohnung, ausreichend Nahrung, Babysachen, Schulgeld für den Hort, Öffi-Tickets und den Eintritt ins Bad am Wochenende plus Pommes für alle.

Familienvater müsste 7500 brutto verdienen

Doch es gibt auch einen dritten Vergleich: Den zwischen einer neunköpfigen Familie mit Arbeitseinkommen oder mit Mindestsicherung. Nimmt man an, dass nur der Mann arbeitet, was bei den meisten syrischen Familien der Fall ist, müsste dieser 7500 brutto im Monat verdienen. Unmöglich. Selbst, wenn man nicht erst als Analphabet mühsam die schwierige Sprache Deutsch lernen muss. 

Natürlich könnte diese Familie bei einem zu geringen Einkommen auf die 4600 Euro Mindestsicherung aufstocken. Das wird sie auch tun, sollte der Vater mit Nachdruck Arbeit suchen und finden. Doch auch hier gibt es einen gravierenden Unterschied: Für Flüchtlinge ist die Mindestsicherung das erste Sicherheitsnetz, aus dem sie in ihr neues Leben starten. Für Österreicher ist sie das letzte Sicherheitsnetz, wenn sie aus gesundheitlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen am Arbeitsmarkt durchrutschen.

Mindestsicherung als Investment und Auftrag

In Oberösterreich und Niederösterreich ist die Sozialhilfe degressiv. Pro weiterem Kind sinken die Ansprüche. Wien hält am Maximalbetrag fest nach dem Motto: "Jedes Kind ist gleich." 4600 Euro pro Monat sind ein Patzen Geld. Vom Steuerzahler finanziert. Man kann das Geld als Investment in Kinder sehen. Kinder, die Österreich braucht, um nicht zu überaltern.

Dann muss die Stadt aber noch mehr Verantwortung dafür übernehmen, dass jedes Kind auch gleich aufwachsen kann wie ein österreichisches. Ohne kulturelle oder religiöse Zwänge, die es davon abhalten, sich in der österreichischen Gesellschaft voll zu entfalten. Nach mehr Polizei und Waffenverboten zu rufen - die Antwort Wiens auf akute Integrationsprobleme - greift hier nicht.

Eltern, die dieses Mindestsicherungs-Investment missbrauchen, weil sie ihre Kinder in der antiwestlichen Welt festhalten, sollten auf allen Ebenen die Rechnung dafür zahlen.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.