Franz Schellhorn: In Österreich ist leider noch viel zu viel völlig „normal“
Österreich ist schon ein höchst interessantes Land: Seit Monaten wird die Bevölkerung von der höchsten Teuerungswelle in Westeuropa überrollt, seit Wochen mehren sich die Anzeichen einer bevorstehenden Rezession, und seit Tagen beschäftigt sich die Innenpolitik ausgiebig mit Fragen, die angeblich über das Schicksal des Landes entscheiden: ob das Bargeld in die Verfassung soll, jede kleine Ortschaft einen Bankomaten braucht und was hierzulande eigentlich noch „normal“ ist. Aus Sicht der ÖVP kommen die Interessen der „normalen Bürger“ immer stärker unter die Räder des von einer radikalen Minderheit definierten Zeitgeists. Gendern, Inklusion und Konsumverzicht für das Klima würden die breite Masse überfordern, glaubt die ÖVP. Das ist wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler hielt es trotzdem für notwendig, die „Normalo“-Debatte im profil als „präfaschistoid“ abzukanzeln. Hier scheint die eine oder andere Portion Emotion zu viel im Spiel zu sein. Schade eigentlich. Eine offene Debatte darüber, was in Österreich alles „normal“ sein soll, wäre höchst überfällig.
Immerhin haben wir uns an Zustände gewöhnt, die in anderen zivilisierten Ländern als äußerst seltsam gelten würden. Die Österreicher müssen sich auch im 21. Jahrhundert noch von der Politik vorschreiben lassen, welche Rundfunkanstalten sie zu finanzieren haben und welche Kammern ihre politischen Interessen am besten vertreten. Das gibt es aufseiten der Arbeitnehmer nur noch in Luxemburg, bei den Unternehmen in einer Handvoll anderer EU-Länder. In diesem Sinne ist es auch völlig stimmig, dass der österreichische Staat seiner Bevölkerung vorgibt, wann sie einzukaufen und wann sie ihre konsumfreie Zeit zu konsumieren hat. Während die Lösung dieser offensichtlich überaus fordernden Problemstellung in so gut wie allen EU-Ländern den Unternehmen und deren Beschäftigten überlassen bleibt.
Bis 2027 müssen 160 Milliarden in das Pensionssystem zugeschossen werden.
Hierzulande findet auch niemand etwas dabei, wenn sich amtierende Minister in ein Fernsehstudio setzen, um dort den Arbeitskräftemangel in ihrem Zuständigkeitsbereich zu beklagen. Ganz so, als würden sie für das Aufzeigen von Mängeln bezahlt und nicht für deren Beseitigung. Letzteres ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, zumal dieselben Politiker in ihrem eigenen Umfeld ältere Beschäftigte nach wie vor ungebremst in die Frühpension schicken – etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Dabei musste allen klar sein, dass es an Lehrern und Pflegern fehlen wird, wenn geburtenschwache Jahrgänge reihenweise in die (Früh-)Rente verabschiedet werden. Öffentliches Lamentieren wird nicht viel helfen. Besser wäre es, wenn sich die „betroffenen“ Minister Martin Polaschek und Johannes Rauch für ein paar Stunden mit den zuständigen Landes- und Stadträten zusammensetzten, um gemeinsam zu überlegen, wie sich die Misere beheben lässt. Vielleicht über das gezielte Anwerben von Arbeitskräften aus dem Ausland? Oder über finanzielle Anreize für ältere Menschen, um sie länger in Beschäftigung zu halten? Dazu müssten freilich ein paar Zentimeter weltanschaulichen Schattens übersprungen werden, etwa um die Streichung der Pensionsbeiträge für Menschen über 65 in Erwägung zu ziehen.
Es ist in Österreich auch völlig normal, Arbeitssuchenden jede Menge Zeit zu lassen, sich nach dem passenden Job umzusehen. Das ist angesichts des Rekords an offenen Stellen überaus freundlich. Allerdings ist es abgesehen von Belgien in keinem anderen EU-Land möglich, zeitlich unbegrenzt Arbeitslosengeld zu beziehen und dazu auch noch zeitlich unbegrenzt bis zur Geringfügigkeitsgrenze steuer- und abgabenfrei dazuzuverdienen.
Wir halten es auch für völlig normal, jährlich ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts für das staatliche Pensionssystem zu verjubeln. In den kommenden fünf Jahren müssen 160 Milliarden Euro zugeschossen werden, das entspricht 43 Prozent der heutigen Staatsverschuldung. Raubt das den Regierungsmitgliedern ihren Schönheitsschlaf? Natürlich nicht.
Alles läuft weiter wie gehabt; die Österreicher zählen zu den jüngsten Rentnern weltweit, berufen sich aber gerne darauf, ihren Teil geleistet zu haben. Darüber könnte man freilich streiten: Frauen zahlen im Schnitt 30 Jahre in das öffentliche Pensionssystem ein, um nach einem recht knappen Arbeitsleben 26 Jahre als Rentnerinnen zu verbringen. Männer zahlen immerhin 38 Jahre ein, um rund 20 Jahre in Pension zu sein.
Die Idee, das gesetzliche Pensionsantrittsalter an die steigende Lebenserwartung anzupassen, steht hingegen ganz oben auf der Liste potenzieller Menschenrechtsverletzungen. Überaus populär ist es dafür, Pensionisten als die größten Inflationsopfer zu inszenieren und sie pauschal zu den Ärmsten der Armen zu zählen. Obwohl alle Statistiken das Gegenteil zeigen. Aber von kalten Zahlenwerken lassen sich heimische Politiker nicht beeindrucken. Sie gehen unbeirrt jenen Fragen nach, die die Menschen auf den Straßen wirklich bewegen. Alles ganz normal? In Österreich schon.