Franz Schellhorn: Klassenkampf im Wartezimmer
Es gibt Dinge, auf die muss man erst einmal kommen. Aussagen wie diese zum Beispiel: „Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte nahm nicht nur zahlreiche Inhalte staatlicher Grundrechte auf, sondern hat in Österreich auch einen Namen. Und der lautet Sozialversicherung.“ Das ist noch nicht alles, es kommt noch besser: „Der Hauptverband und die Sozialversicherungsträger sind in Österreich die praktische Umsetzung der Ziele der UN-Menschenrechtserklärung gewesen.“ Mit diesen Worten appellierte Alexander Biach, Chef des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger, laut Austria Presseagentur an die Regierung, ebendiesen Hauptverband nicht zu schwächen.
Nun kann man durchaus verstehen, dass eine Führungskraft nicht in Jubelstimmung verfällt, wenn die von ihm geführte Institution an Macht und Einfluss verliert. Die eingeschlagene Argumentationslinie ist aber doch ziemlich originell. Zu Ende gedacht hieße das nämlich, dass jede Organisationsänderung in den heimischen Sozialversicherungen mit den Menschenrechten kollidierte. Würde die Republik Österreich etwa die Struktur der Sozialversicherung auflösen, den ganzen Wohlfahrtsstaat wie Dänemark über Steuern finanzieren und die Erfüllung aller Sozialleistungen den jeweiligen Ministerien überantworten, müsste das zwangsläufig die Blauhelme in Alarmbereitschaft versetzen.
Allein die laufende Debatte über die Neuordnung der Sozialversicherungen zeigt, woran dieses Land leidet. Vor allem einmal daran, dass Funktionäre hierzulande so tun, als stünde ihr eigenes Wohl im Einklang mit jenem der Beitragszahler. Das ist aber nicht der Fall. So wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Bürger dieses Landes 21 Sozialversicherungsträger samt Verwaltungsapparaten zu bezahlen haben, um sich angemessen gegen Krankheit, Unfälle, Arbeitslosigkeit und Altersarmut abzusichern. Aber genau das wird den Bürgern eingeredet.
Dabei hat die Regierung natürlich völlig recht, die Organisation der Sozialversicherung zu straffen. Unverständlich bleibt die Art der Erzählung. Ob nun eine Milliarde Euro eingespart wird oder doch deutlich weniger, ist nicht der Punkt. Entscheidend ist, dass am Ende des Weges auf die Beitragszahler nicht nur eine schlankere Kostenstruktur wartet, sondern auch ein faires und transparentes System ohne Privilegien für ausgewählte Bevölkerungsgruppen.
Wer es sich also leisten kann, versichert sich privat. Wer es sich nicht leisten kann, hat sich mit dem öffentlichen Gesundheitssystem zu begnügen. Dabei ist Letzteres auch nicht gerade umsonst.
Genau davon ist die Regierung aber noch weit entfernt. Bauern und Unternehmer werden zusammengeführt, aber die Beamten behalten ihre eigene Struktur mit all den damit verbundenen Sonderrechten. Hinzu kommen noch zahlreiche Krankenfürsorgeanstalten großer Gemeinden, deren Leistungen selbst die Beamtenversicherten noch neidvoll erblassen lassen. Warum aber gibt es nicht eine öffentliche Krankenversicherung, eine Unfallversicherung, eine Pensionsversicherung und eine Arbeitslosenversicherung für alle Bürger dieses Landes? Also ein öffentliches System, in dem ein eingezahlter Euro landesweit dieselbe Leistung auslöst.
Wie nötig das wäre, zeigt das staatliche Gesundheitswesen. Der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer bringt es auf den Punkt: „Es gibt in Österreich keine Zwei-Klassen-Medizin, sondern eine Viel-Klassen-Medizin“, allein schon wegen der höchst unterschiedlichen Leistungskataloge der öffentlichen Krankenkassen. Hinzu kommen Engpässe im Gesundheitssystem, weshalb mehr als 3,2 Millionen Bürger dieses Landes eine private Krankenversicherung abgeschlossen haben – zusätzlich zur verpflichtenden gesetzlichen. Das sind immerhin knapp 36 Prozent der Bevölkerung.
In Summe liegen die privaten Gesundheitsausgaben in Österreich bei 2,7 Prozent des BIP und damit nur knapp hinter jenen der USA (3,1 Prozent). Die Menschen schließen nicht deshalb eine Privatversicherung ab, weil sie Snobs sind. Sondern weil sie mit den Leistungen des von den Kammern verwalteten öffentlichen Systems zunehmend unzufrieden sind. Das gilt insbesondere für den ländlichen Raum, in dem es an Kassenärzten mangelt. Womit vielen Patienten de facto nur noch der (teure) Wahlarzt bleibt. Von langen Wartelisten für heikle Untersuchungen nicht zu reden.
Wer es sich also leisten kann, versichert sich privat. Wer es sich nicht leisten kann, hat sich mit dem öffentlichen Gesundheitssystem zu begnügen. Dabei ist Letzteres auch nicht gerade umsonst. Mit Kosten von 3800 Euro pro Kopf und Jahr ist das staatliche Gesundheitssystem eines der teuersten in Europa. Der Grund dafür ist kein Staatsgeheimnis: Der kostspielige Krankenhaussektor ist trotz einer leichten Reduktion der Spitalsbetten noch immer überdimensioniert, die Versorgung der Patienten außerhalb des Spitals dafür unzulänglich.
Über all das lässt sich in Österreich nicht vernünftig diskutieren. Sobald Kassen- und Ärztevertreter etwas von „schlechterer Gesundheitsversorgung“ in die Mikrofone murmeln, hat sich jede Änderung des Status quo erledigt. Da muss man nicht einmal die Erklärung der Menschenrechte bemühen.
Franz Schellhorn ist Direktor des Thinktanks Agenda Austria.