Franz Schellhorn: Schrumpfen, um zu wachsen
Hin und wieder ist das Leben ziemlich paradox. So müsste drei Monate nach Ausbruch der Corona-Krise samt Massenarbeitslosigkeit, Unternehmenspleiten und explodierender Staatsschulden eigentlich jedem klar sein, dass eine Welt ohne Wirtschaftswachstum nicht die Endstation Sehnsucht sein kann. Fast die ganze Welt schrumpft, wie der Internationale Währungsfonds vergangenen Mittwoch in seiner aktuellen Konjunkturprognose zeigt. In 95 Prozent der Länder wird die Wirtschaftsleistung pro Kopf heuer rückläufig sein, wobei in diesem Szenario noch keine zweite Welle eingerechnet ist.
Die Vertreter der Post-Wachstum-Bewegung sind entzückt und hoffen, dass diese Entwicklung eine dauerhafte sein wird. Sie sind mit dieser Hoffnung nicht allein. Seit Wochen wird ausführlich darüber berichtet, wie gut sich die Umwelt im Shutdown erholt habe. Erst unlängst klagte eine prominente deutsche Vertreterin der Fridays-for-Future-Bewegung mit hippen Air-Pods im Ohr, dass die Politik zur Rettung der Wirtschaft allen Ernstes zum Konsum aufrufe, anstatt zu fragen, was wir denn eigentlich zum Leben wirklich bräuchten.
Das trifft den Nerv weiter Teile der Bevölkerung, vor allem der jüngeren. Offene Volkswirtschaften wie die deutsche und die österreichische sind längst zu den ganz großen Gegnern des internationalen Handels geworden - obwohl ihr Wohlstand auf genau diesem internationalen Handel gründet. Aber zu groß seien die Opfer, die dem "Wachstumsgott" dargebracht werden müssten: eine zerstörte Umwelt, gestresste Menschen in der Ersten und ausgebeutete in der Dritten Welt. So könne das nicht weitergehen. Während das Wachstum von seinen Gegnern als eine Art Religion gescholten wird, predigen sie selbst Verzicht und Enthaltsamkeit. Wir sollten weniger einkaufen, und wenn, dann nur regional. Wir sollten weniger reisen, und wenn, dann nur mit der Bahn. Wir sollten weniger importieren, und wenn, dann nur die hippen AirPods, die Apple in China und Vietnam fertigen lässt.
Wohlgenährt lässt sich eben leicht über mehr Bescheidenheit sinnieren. Völlig anders sieht die Sache für jene Menschen aus, die ganz unten auf der Wohlstandsleiter stehen. Dazu zählen die prekären Haushalte in den reichen Ländern, vor allem aber Hunderte Millionen von Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern, für die ein längst überwunden geglaubter Kampf um das tägliche Überleben zurückgekehrt ist. Die Armen wissen, dass sie von der Post-Wachstum-Bewegung direkt in das Elend zurückgeschickt werden. Sie wissen, dass ihr Leben nur durch wirtschaftliches Fortkommen und technologische Weiterentwicklung ein besseres werden kann. Sie spüren am eigenen Leib, wie die Lebenserwartung mit einer wachsenden Wirtschaftsleistung pro Kopf korreliert, weil sie sehen, dass bessere Schulen und soziale Absicherung nur mit Wachstum zu erreichen sind.
In Österreich hat man das alles längst vergessen. Anhänger der Post-Wachstum-Bewegung schwingen flammende Reden gegen das Streben nach "immer mehr", um gleichzeitig die steigende Ungleichheit anzuprangern - ohne zu sehen, dass es genau dieses wegbrechende Wachstum ist, das einen immer größeren Keil zwischen Arm und Reich treibt. Nun ist nicht zu bestreiten, dass die vergangenen Jahrzehnte des steten Wachstums auch ihren Preis haben. Es erscheint absurd, dass es günstiger ist, ein defektes Gerät durch ein neues aus Fernost zu ersetzen, statt es vor Ort reparieren zu lassen. Der Grund dafür liegt aber nicht nur in den Billigimporten, sondern in erster Linie darin, dass wir es für den richtigen Weg hielten, die menschliche Arbeitskraft mit immer höheren Steuern und neuen Abgaben auf ein Niveau zu verteuern, das sich kaum noch jemand leisten kann.
Dabei fordert niemand eine Rückkehr in die Zeit der rauchenden Schlote. Mittlerweile sollte aber einer wachsenden Zahl von Bürgern klar geworden sein, dass die Massenarbeitslosigkeit weder mit Verzicht noch mit einer schrumpfenden Wirtschaft oder verkürzten Arbeitszeiten aus der Welt zu schaffen ist. Es sollte auch keine Zweifel mehr daran geben, dass wir unser Wohlstandsniveau nur halten können, wenn wir klüger und produktiver werden. Genau um dieses Produktivitätswachstum geht es: Wir müssen mit einem sinkenden Einsatz von Ressourcen (Arbeitszeit, Rohstoffe, Kapital) ein besseres Ergebnis erzielen.
In einem steten qualitativen Wachstum liegt unsere einzige Chance, sowohl mit den Folgen des Klimawandels fertigzuwerden als auch einen überalternden Wohlfahrtsstaat für die nachkommenden Generationen finanzierbar zu halten. Die "Degrowth"-Bewegung behauptet, dass das alles auch ganz ohne Wachstum zu haben sei. Beweise dafür hat sie keine. Vielmehr lässt sich seit Wochen aus allernächster Nähe beobachten, was passiert, wenn das Wachstum plötzlich weg ist. Der Vergleich macht sicher, möchte man meinen. Aber hin und wieder ist das Leben eben ziemlich paradox.