Fünf Zorn-Wahlen: Protest von links und rechts
Vielleicht bietet die „Partei des angemessenen Fortschritts in maßvollen Grenzen“ ausgeklügelte Konzepte? Die „Unruhestifterpartei“ spannende Persönlichkeiten oder die „Partei tatkräftiger umsichtiger toleranter Staatsbürger“ unkonventionelle Wunderwuzzis? Hat die „autonom revolutionär subversiv chaotische Hacklerpartei“ mehr auf Lager als den Bruhaha-Witz ihrer Kurzbezeichnung „Arsch“?
Enorme 1284 Parteien sind in Österreich registriert. Manche als Ein-Personen-Wutaktion, manche als Satireprojekt, manche – wie die „Piraten“ – als verblichene Zukunftshoffnung, manche als idealistischer Versuch. Die weltrekordverdächtig hohe Zahl zeigt, wie flächendeckend Frust und Zorn über traditionelle Großparteien verbreitet sind, vor allem über Partei Nummer 858 (ÖVP) und Partei Nummer 1033 (SPÖ). Das Ansehen dieser etablierten Parteien grundelt auf Tiefständen, Politiker haben einen ähnlich grottenschlechten Ruf wie Waffenhändler, Trickbetrüger (und Medien).
So lautet der vernichtende Befund nach dem heimischen Superwahlhalbjahr. Das Vertrauen in Regierende: im Keller. Das politische System: aus den Fugen geraten. Die Proteststimmung: exorbitant hoch. Das Misstrauen gegen Politik: tief verwurzelt. Politikerbeschimpfung: Massensport.
Tirol, Hofburg, Niederösterreich, Kärnten, Salzburg: An fünf Stationen wurde seit Herbst 2022 das Ausmaß der Politikverdrossenheit vermessen – und überall holten sich Regierende schallende Ohrfeigen. Egal ob mit dem Bundespräsidenten das Staatsoberhaupt gekürt oder 2.656.599 Millionen Wahlberechtigte bei Landtagswahlen entschieden: Die Grundmuster dieser Zornwahlen zeigen explosive Stimmung. Oft wurden Krise der Demokratie, Zerfallserscheinungen des Parteienstaates und Autoritätsverlust der Institutionen beklagt – nie traten sie auffälliger zutage als bei der Serie von fünf Protest-Wahlen.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen: mit mauer Zustimmung in die Verlängerung. Die Landeshauptleute, von Wilfried Haslauer über Johanna Mikl-Leitner bis Peter Kaiser und Anton Mattle: brutal abgestraft. ÖVP und SPÖ: meist herbe Niederlagen. Alle Wahlen zusammengerechnet, summieren sich die Verluste der (bis auf Kärnten) dominanten ÖVP auf erkleckliche 25 Prozentpunkte, jene der SPÖ auf 15 – zudem sackte sie drei Mal auf den blamablen dritten Platz hinter Wahlsiegerin FPÖ (plus 21) ab. Viel deutlicher können Denk-zettel kaum ausfallen.
Die Bilanz von Grünen und NEOS ist ähnlich deplorabel. Die Klimaprotest-Erfolgsserie der Ökos ist längst vorbei, sie flogen in Tirol hochkant aus der Regierung, in Salzburg wohl auch, in Kärnten scheiterten sie überhaupt am Einzug in den Landtag. Auch die Pinken, vor zehn Jahren frisch und neu, zählen zu den großen Verlierern, betrachten die Landtage in Salzburg und Kärnten nur von außen und quälen sich mit Richtungs- und Personaldebatten. Strahlende Zukunftshoffnungen sehen anders aus, überzeugende Regierungsalternativen zu den angeschlagen taumelnden Ex-Großparteien ÖVP und SPÖ sowieso.
Gewisse Endzeitstimmung macht sich breit. Nie war der Generalverdacht gegen die politische Klasse größer: Trau keiner traditionellen Partei! Obacht vor Politikern! Hauptsache, Protest! Hauptsache, nicht diese Sorte Politik – nach dem Motto konnten im Superwahlhalbjahr alle punkten, die nicht zum „System“ gehören. Die „anders“ auftreten, „anders“ reden, vielleicht sogar Klartext sprechen und nicht wie Sprechautomaten wirken, denen schlicht zugetraut wird, „anders“ Politik zu betreiben. Oder die zumindest gegen „die da oben“ antreten. Das reicht, auf dieser Erfolgswelle surften krawallige Rabauken wie Gerald Grosz oder Anti-System-Mann Tassilo Wallentin zu Achtungsergebnissen bei der Bundespräsidentenwahl.
Protest muss beileibe nicht rechts sein und automatisch bei der FPÖ landen, auch das ist eine der Lehren des Superwahlhalbjahres: Dominik Wlazny vulgo Marco Pogo zeigte bei der Hofburg-Wahl, dass Sehnsucht nach linker Politik rocken kann. In Kärnten sammelte Ex-SPÖ-Mann Gerhard Köfer genauso zehn Prozent ein wie die erdige „Liste Fritz“ in Tirol, die „für ein leistbares Tirol mit Chancen für alle“ kampagnisiert. Und in Salzburg sorgte der authentisch-engagierte Kay-Michael Dankl nach identem Muster und mit dem Kernthema Wohnen für einen 11,7-Prozent-Sieg.
Überrascht davon kann nur sein, wer die Zeichen dieser fünf Zorn-Wahlen nicht sehen will: Das Gros der Bevölkerung plagt die grassierende Teuerung, das Gefühl, dass das Leben unleistbar und für Kinder und Enkelkinder stets schlechter wird. Das Vertrauen, dass traditionelle Parteien grundsätzliche Probleme lösen oder zumindest ernst nehmen, ging verloren, die Abstiegssorgen und Ohnmachtsgefühle reichen längst tief in den Mittelstand hinein. Aus nachvollziehbaren Gründen: (Lebensmittel)Preise steigen, Energierechnungen drücken, fehlende Medikamente beunruhigen genauso wie das krachende Gesundheitssystem oder die meilenweit verfehlten Klimaziele. Die Liste der Beunruhigungsfaktoren ist lang – und wird keineswegs kürzer, wenn sich ÖVP und SPÖ mit scharfem Blick fürs Unwesentliche lieber um Symbolthemen wie den Verbrennungsmotor, SNU („strategisch notwendigen Unsinn“) oder überhaupt um sich und die eigene Befindlichkeit kümmern. Eigentlich hat die ÖVP eine verdienstvolle Tradition als Wirtschaftspartei, eigentlich ist leistbares Wohnen eine stolze Kernkompetenz der SPÖ.
Die Rechnung für ihr Nichthandeln bekamen beide im Superwahlhalbjahr deutlich präsentiert. Wenn jetzt nicht alle Alarmglocken schrillen, haben die Parteien die Lektionen nicht verstanden. Oder beschlossen, dem Anstieg der FPÖ und anderer Protestprofiteure tatenlos zuzusehen.