Gastkommentar von Barbara Blaha: Traut euch politischen Rock’n’Roll!

Das Herz schlägt links – aber derzeit unregelmäßig: Barbara Blaha zur Krise der Sozialdemokratie anlässlich des Parteitages in Wels.

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Warum haben sich so viele ihrer einstigen WählerInnen in den vergangenen Jahrzehnten von der SPÖ abgewandt? Wählerbindung ist in der Politik immer weniger eine Frage von Loyalität zu einzelnen Organisationen oder Personen. WählerInnen bleiben Parteien verbunden, deren Anliegen sie teilen: ohne Alleinstellungsmerkmal, ohne Kernanliegen – auch keine Kernklientel.

Die steigende Ungleichheit, dass einige wenige immer mehr haben, während die große Mehrheit immer stärker unter Druck gerät, ist kein Naturgesetz. Sie ist das Ergebnis von Interessensgegensätzen und der Frage, zu wessen Gunsten diese entschieden werden. Einigen wenigen ProfiteurInnen steht die große Zahl der Übervorteilten gegenüber. Sie werden um anständige, fair bezahlte Jobs gebracht. Um Wohnraum, den man auch mit einem Normalgehalt bezahlen kann. Um ein Alter in Sicherheit und Würde. All das – zu wenige Jobs, niedrige Löhne, überteuerte Mieten, Altersarmut und Pflegenotstand – nützt einigen wenigen auf Kosten der großen Mehrheit.

Die materiellen Interessen dieser großen Mehrheit haben seit Jahren keine politische Vertretung. Die ÖVP, die Partei der Unternehmer, der Vermieter, der Großbauern, übt sich in Sachzwang-Rhetorik und versucht ansonsten abzulenken: Die wahre Bedrohung seien nicht der Abbau von Arbeitnehmerrechten, Milliardengeschenke an die Industrie und der Rückbau des Wohlfahrtsstaates – sondern die Flüchtlinge. Dieses Spiel hat sich die ÖVP bei der FPÖ abgeschaut, die schon länger heuchelt, sie stehe auf der Seite eben jenes „kleinen Mannes“, aber in Wahrheit macht sie diesen selbst klein: bei jedem neoliberalen Kürzungs- und Abbauprojekt ist sie dabei, während sie behauptet, dass an allem die Ausländer schuld seien. Kein Wunder, dass auch bei den Nationalratswahlen 2017 die stärkste Partei jene der Nichtwähler war. Was die Menschen wirklich bewegt, kommt in der Tagespolitik kaum vor.

Es mutet paradox an, dass die Sozialdemokratie vor sich hinsiecht, während das, wofür sie einst stand, sich ungebrochener Popularität erfreut. Alle Meinungsumfragen weisen satte Mehrheiten für mehr soziale Gerechtigkeit aus. Den wirtschaftspolitisch linken Mehrheiten steht aber zugleich eine rechte Hegemonie in kulturellen Fragen gegenüber. Kein Zweifel, das jahrelange Minderheitenbashing ist in vielen Köpfen mittlerweile fix verankert. Als Sozialdemokratie Politik zu machen, hieße allerdings zu verstehen, dass der Versuch zwecklos ist, dem politischen Gegner dessen Domäne – permanentes Angstschüren, das den daraus resultierenden Hass billigend in Kauf nimmt – streitig machen zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, den Gegner auf eigenem Terrain zu stellen, die soziale Frage in den Mittelpunkt zu rücken, den Rechtsparteien eine Gerechtigkeitsdebatte aufzuzwingen. Themen gäbe es wahrlich genug – von einer Pflegeversicherung über die Beseitigung prekärer Arbeitsverhältnisse bis hin zu existenzsichernden Pensionen und einer nachhaltigen Arbeitszeitverkürzung.

Man kann auch aus der Opposition Einfluss nehmen, wie die FPÖ bewiesen hat.

Es ginge, kurz gefasst, darum, klarzumachen, dass es eine Alternative zur permanenten Verschlechterung gibt; dass all jene, die es sich im täglichen Leben nicht selbst richten können, einen großen Vorteil haben: Sie sind die große Mehrheit. In einer Demokratie kann eine Mehrheit soziale Gerechtigkeit durchsetzen. Gut bezahlte, sichere Jobs, die beste Bildung für unsere Kinder, leistbare Mieten – all das sind politische Entscheidungen. Diese Entscheidungen herbeizuführen erfordert einen politischen Klimawandel. Die gute Nachricht für die SPÖ ist, dass man auch aus der Opposition heraus Einfluss nehmen kann, wie die FPÖ jahrelang bewiesen hat.

Um diesen Zielen näher zu kommen, muss sich die Sozialdemokratie programmatisch und organisatorisch neu aufstellen. Neben inhaltlichem Profil und glaubwürdigem Spitzenpersonal braucht es vor allem eine Belebung der Strukturen, also Aktivistinnen und Aktivisten. Die vielen werden ihr Recht nicht durchsetzen, wenn sie andere wählen, die es dann erledigen sollen. Sie werden nur Erfolg haben, wenn sie sich selbst einbringen können.

Die gegenwärtige Sozialdemokratie eröffnet aber kaum reale Mitsprachemöglichkeiten. Aus ihrer organisatorischen Krise wird die SPÖ daher nur herausfinden, wenn sie sich öffnet – und das heißt: wenn sie sich umfassend demokratisiert. Die Chance dafür wurde eben wieder ohne Not vergeben. Die Erstarrung hinter sich zu lassen, erfordert daher zuallererst, die Panik vor Kontrollverlust zu überwinden.

Die gute Nachricht: Dass es gelingen kann, zeigen politische Phänomene wie Bernie Sanders, Jeremy Corbyn oder Alexandria Ocasio-Cortez. Ganz offensichtlich herrscht eine große Sehnsucht nach Veränderung – und nach stärkerer Gemeinschaft in unsicheren Zeiten. Die Perspektive für die Linke liegt nicht in der digitalen Vereinzelung, sondern in der gemeinsamen Arbeit.

So geht politischer Rock’n’Roll. Es muss sich nur jemand mit dem Tanzen anzufangen trauen.

Barbara Blaha trat 2007 aus der SPÖ aus. Sie ist Gründerin des Politkongresses „Momentum“ und leitet die Abteilung „Wissen“ beim Brandstätter Verlag.