Industriellenvereinigung: Abschied von der großen Geschichte?
Ja, die aktuelle Lage für die Industrie ist herausfordernd: kumulierende Krisen, wachsende geo-politische Unsicherheit für eine exportorientierte Wirtschaft. „Eine strukturelle Krise“, wie der Präsident des Fiskalrats Christoph Badelt Ende 2024 in der „ZIB 2“ analysiert hat. Es besteht kein Zweifel, wir brauchen eine strategisch weitsichtige Standort-politik. Doch wie? Christoph Badelt benennt die zentralen Handlungsfelder im Jänner so: Digitalisierung, Energiepolitik und Arbeitskräfte.
Szenenwechsel zu einem anderen Interview zum Thema Standort: Entsetzt über das Scheitern der Verhandlungen von FPÖ und ÖVP zeigt sich IV-Präsident Georg Knill im „Kurier“ und reduziert die Gründe für das Scheitern auf eine „Postendiskussion“, um der ÖVP in weiterer Folge das „Staatstragende“ abzusprechen. Inhalte scheinen kein Hindernis aus dieser Perspektive gewesen zu sein. In der „Presse“ resümiert Knill später, dass die ÖVP und FPÖ in Steuerfragen „Wort gehalten“ hätten und die gefundenen Positionen zum Wirtschaftsstandort „positiv“ waren. Kein voreiliges Missverständnis: Das Eintreten der IV für Steuersenkungen ist ihre legitime Aufgabe. Aber ist es die einzige?
Eine dauerhafte eindimensionale Selbstbeschränkung des Gestaltungsanspruchs der IV wäre ein dramatischer Verlust für eine kompromissfähige Politik.
Da war doch mehr? Tage vor den oben zitierten Interviews hatte Ursula Plassnik in der „Presse“ gefragt: „Macht Kickl Österreich zum Geisterfahrer in der EU?“ Und im „Standard“: „Kickl will mit seinen Spießgesellen von den rechtsnationalen Patrioten für Europa nichts weniger als die Rückabwicklung der europäischen Integration.“Jener europäischen Integration, die Österreich auf die europäische Überholspur in die erste Wohlstandsreihe gebracht hat. Es braucht angesichts der Krisen wohl mehr wirtschaftliche Offenheit auf unserem Kontinent als eine mutwillige Zerstörung des gemeinsamen Haus Europa.
Und: Sind progressive Bildungspolitik, nachhaltige Energiepolitik, inklusive Sozialpolitik, Rechtsstaat, unabhängiger Journalismus auf einmal keine Standortfragen mehr? Was ist das? Gesamtverantwortungsbewusstlosigkeit? Politik mit Excel-Tabelle und Quartalshorizont? Alle denken an sich, nur ich denke an mich?
Es bricht jedenfalls mit einer guten Tradition: Die österreichische Industriellenvereinigung hat sich über Jahrzehnte dadurch ausgezeichnet, dass sie einen umfassenden Blick auf Standortfragen hatte.
Sie hat ihren beträchtlichen Einfluss auf die jeweilige Regierungspolitik danach ausgerichtet: Die IV war Vorreiterin im Einsatz für eine progressive Bildungspolitik. Sie hat immer eine klare proeuropäische Position vertreten. Die IV war unter den Pionierinnen in Sachen CSR. Für eine aktive Einwanderungs- und Integrationspolitik wurde auch mit NGOs auf Augenhöhe nach echten Lösungen und nicht bloß symbolischen Handlungen gesucht.
Formal nur fünftes Rad am Wagen der Sozialpartnerschaft, hat die IV mit Blick auf das große Ganze und im Wissen um die Grenzen des oder der anderen am Tisch die Zweite Republik entscheidend mitgestaltet. Eine dauerhafte eindimensionale Selbstbeschränkung des Gestaltungsanspruchs der IV wäre daher ein dramatischer Verlust für eine kompromissfähige Politik.
Jene, die über Jahrzehnte gut, gerne und erfolgreich mit der Industriellenvereinigung für eine weltoffene, beständige Erneuerung Österreichs zusammengearbeitet haben, sind jetzt gefordert, wohlwollend kritisch deren aktuelles Selbstverständnis zu hinterfragen. Auch das ist eine österreichische Standort- und keine politische Standpunktfrage.
Vielleicht sind die vergangenen Wochen ein Anstoß für viele Institutionen, aus der Gesamtverantwortungsbewusstlosigkeit zu erwachen. Die aktuelle Entwicklung der Industriellenvereinigung ist ja auch ein Symptom.
Wir leben in einer Zeit, in der die schrillsten Präsidenten Politik als Nullsummenspiel verstehen. Ich gewinne, du verlierst. Der sozial-medial angetriebene Dreischritt lautet: Demütigung – Unterwerfung – Vernichtung. Gerade jetzt brauchen wir eine Politik des Aufeinander-zugehens. Das, was Österreich ausgezeichnet und stark gemacht hat, weg von: Alle schauen auf sich, nur ich schau auf mich. Weg von: Ich brauche 1. und 2. und 3., damit ich mich bewegen kann.
Wieder hin zu: Ich bewege mich auf dich zu, dann kannst du dich auch bewegen. Ich schau auf dich. Und wir bewegen uns nach vorn, in eine gemeinsame Zukunft.