Gastkommentar von Stephan Schulmeister: Neue Gerechtigkeit. Für uns alle?
Das Wahlprogramm der neuen ÖVP verspricht „neue Gerechtigkeit“, und zwar „für uns alle“ (beide Begriffe kommen mehr als 100 Mal vor). Schauen wir uns das genauer an.
Eine Hauptforderung ist die Senkung der Lohn- und Einkommenssteuer in den ersten drei Stufen, also für Brutto-Einkommen zwischen 11.000 und 60.000 Euro. Allerdings verdienen 34 Prozent aller Erwerbstätigen so wenig, dass sie keine Steuer zahlen und daher auch nichts bekommen würden. Von den Pensionisten wären es 40 Prozent, von den Frauen 45 Prozent und von den Landwirten 70 Prozent.
Personen mit einem Brutto-Monatseinkommen (14 Mal) zwischen 1300 und 1700 werden nur geringfügig entlastet, um 103 Euro (1300) bzw. 276 Euro (1700) pro Jahr. Die ärmere Hälfte der ÖsterreicherInnen würde durch die Steuersenkungen der neuen ÖVP nahezu nichts bekommen. Danach steigt die Entlastung auf bis zu 1580 Euro (bei einem Monatseinkommen von 6000 Euro). Zum Vergleich: Im SPÖ-Konzept wird die Steuer ab einem Einkommen von 1500 Euro einheitlich um 538 Euro gesenkt (zwischen 1300 und 1500 Euro etwas weniger).
Auch die Kapitalgesellschaften sollen laut ÖVP entlastet und ihre einbehaltenen Gewinne von der Körperschaftssteuer (KÖSt) befreit werden. Dadurch würden Investitionen und Wachstum steigen, wird versprochen. Tatsächlich haben die größeren Unternehmen schon seit den 1970er-Jahren ihre Realinvestitionen zugunsten von „financial investments“ gesenkt, besonders seit der Finanzkrise 2008 – die österreichischen Unternehmen besitzen derzeit Wertpapiere in der Höhe von 250,6 Milliarden Euro.
Dieses Investitionsverhalten ist ein Hauptgrund für schwaches Wachstum, geringe „job creation“ und (daher) hohe Arbeitslosigkeit. Es würde durch die Steuerbefreiung nichtentnommener Gewinne gefördert. Gleichzeitig werden alle anderen Unternehmer (und Arbeitnehmer) diskriminiert, sie müssen ja ihr Einkommen versteuern, bevor sie damit Wertpapiere kaufen.
Dem Staat entgeht durch die KÖSt-Senkung nicht nur eine Milliarde Euro (wie die neue ÖVP meint), sondern das Vierfache (laut einer Studie der Industriellenvereinigung aus 2016 wären es etwa 4,6 Milliarden Euro) – schließlich haben sich die Unternehmensgewinne gut entwickelt.
Wer die direkten Steuern massiv senkt, begünstigt zwingend die Bessergestellten.
Kurz möchte für jedes Kind einen Steuerbonus von 1500 Euro gewähren. Das untere Drittel hat davon nichts, weil es zu wenig verdient, in den vollen Genuss kommen nur die Besserverdienenden. Denn nach den ÖVP-Steuerplänen würde jemand mit zwei Kindern erst ab einem Einkommen von 2500 Euro (14 Mal) jene 3000 Euro Steuer zu zahlen haben, die er/sie sich dann durch den Bonus erspart (so viel verdienen weniger als 25 Prozent der Österreicher). Familien mit mehr als zwei Kindern werden kaum in den Genuss des Kurz-Bonus kommen, insbesondere die Landwirte nicht – sie verdienen zu wenig.
Wahrscheinlich will die neue ÖVP die sozial Schwächeren ihrer Klientel gar nicht benachteiligen, sie ist aber so sehr vom Leitspruch „mehr privat, weniger Staat“ geblendet, dass sie nicht versteht: Wer die direkten Steuern massiv senkt, begünstigt zwingend die Bessergestellten. Würde man die Familienbeihilfen erhöhen, so wäre dem Staat jedes Kind gleich viel wert. Doch diese werden aus Unternehmerbeiträgen finanziert und Letztere sollen nach den Plänen von ÖVP (und SPÖ) um drei Milliarden Euro gesenkt werden.
Insgesamt entgehen dem Staat durch die Pläne der ÖVP zwölf bis 14 Milliarden Euro (tatsächlich werden es wegen höherer KÖSt-Ausfälle um drei Milliarden Euro mehr sein). Davon sollen sich vier bis fünf Milliarden Euro selbst finanzieren, nämlich durch ein höheres Wachstum und entsprechend höhere Steuereinnahmen.
Bei der inneren und äußeren Sicherheit wird die neue ÖVP sicher nicht sparen. Um den Anstieg der Gesamtausgaben auf die Inflation zu begrenzen, muss sie den Sozialstaat beschneiden.
Das ist eine Illusion: Erstens begünstigt das Kurz-Programm das obere Drittel, besonders die reichsten drei Prozent (die Besitzer größerer Anteile an Kapitalgesellschaften) – sie werden ihre Steuergewinne primär in Finanzkapital anlegen. Zweitens werden zwar die positiven Folgewirkungen von Steuersenkungen berücksichtigt (und überschätzt), auf die negativen Multiplikator-Effekte der „Ausgabenbremse“ (vier bis fünf Milliarden Euro) und der höheren „Systemeffizienz“ (vier Milliarden Euro) wurde aber völlig vergessen. Aus welchen Maßnahmen die „vernünftige Ausgabenbremse“ besteht, erfährt man nicht. Da aber höhere Steuern (insbesondere auf Vermögen, aber auch eine Wertschöpfungsabgabe) ausgeschlossen werden, wird der Sozialbereich drankommen. Denn die neue ÖVP möchte „das Ausgabenwachstum des Staates auf die Inflationsrate begrenzen“, wie im Wahlprogramm zu lesen ist. Das kann nur gelingen, wenn man bei jenen Aufwendungen spart, die am stärksten gestiegen sind. Das waren Gesundheit, soziale Sicherheit, Verteidigung und innere Sicherheit (Polizei etc.).
Bei der inneren und äußeren Sicherheit wird die neue ÖVP sicher nicht sparen. Um den Anstieg der Gesamtausgaben auf die Inflation zu begrenzen, muss sie den Sozialstaat beschneiden. Das wird nicht nur die Lage der Menschen im unteren Drittel verschlechtern, sondern auch die des breiten Mittelstandes: Sie alle brauchen Pflege-, Gesundheits- und Transferleistungen, doch würden diese real schrumpfen.
Am schlechtesten wird es den Ärmsten ergehen: Die Deckelung der Mindestsicherung auf 1500 Euro bedeutet, dass etwa eine (auch „österreichische“) Alleinerzieherin mit zwei Kindern um 33 Prozent weniger bekommt, als es der Armutsgrenze entspricht. Natürlich ist es verständlich, dass Kurz der FPÖ Stimmen nehmen will, doch um den Preis eines Widerspruchs zum eigenen Programm: „Wer sich selbst nicht helfen kann, dem wird geholfen.“
Wie kann die erwähnte Alleinerzieherin sich selber helfen, wenn es in ihrer Nähe weder Job noch Kindergartenplatz gibt? Wie kann jemand, der trotz verschärfter Bedingungen Asyl in Österreich bekommen hat, fünf Jahre lang mit einer Mindestsicherung von 560 Euro überleben? Noch immer gibt es sechs Mal so viele Arbeitslose wie offene Stellen.
Die für eine anständige Versorgung nötigen Beträge sind lächerlich im Vergleich zu den vier bis fünf Milliarden Euro, auf welche die Besitzer von Kapitalgesellschaften hoffen dürfen.
Noch etwas Konkretes: In Österreich arbeiten circa 60.000 Frauen aus Osteuropa als Pflegerinnen. Für 24-Stunden-Dienste bekommen sie zumeist weniger als 1000 Euro für 14 Tage. Viele haben Kinder im Herkunftsland. Die Familienbeihilfe ist de facto Bestandteil ihrer Entlohnung. Bisher wollte die ÖVP nur eine Anpassung an das Preisniveau im Herkunftsland, nunmehr aber an das Lohnniveau. Dann würde eine Pflegerin aus Rumänien mit drei Kindern, die 900 Euro bekommt, 80 Prozent ihrer Familienbeihilfe verlieren, etwa 460 Euro. Schäbig oder gerecht?
Der Kernbegriff der christlichen Soziallehre, „soziale Gerechtigkeit“, kommt im Programm der neuen ÖVP nicht mehr vor, „christlich-sozial“ auch nicht. Mehr als 100 Mal aber „neue Gerechtigkeit“ – neu steht für neo-liberal.
Wer seine Wurzeln aufgibt, hebt leichter ab – aber wie viel kann er tragen?
Der Wiener Ökonom Stephan Schulmeister, 70, arbeitete viele Jahre am Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO).