Leitartikel

Gaza: Der Krieg muss enden

Der Krach um irre Protest-Camps und abstruse Antisemitismus-Bezichtigungen überlagert die wichtigste Frage.

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Vergangenen Montag trafen zwei Nachrichten bei mir ein, in beiden ging es um den Gazakrieg und um Zelte. Die eine handelte davon, dass auf dem Gelände der Universität Wien ein „propalästinensisches Protest-Camp“ errichtet wurde, ganz nach dem Vorbild der Camps an US-Universitäten. Die zweite war eine Chat-Nachricht von Riham Adwan, einer Palästinenserin, die mit ihrer Familie in die Stadt Rafah im Süden von Gaza geflüchtet ist: „Die Invasion beginnt“, schrieb sie, die israelischen Streitkräfte hätten Flugblätter abgeworfen, in denen sie die Bevölkerung aufforderten, diesen Ort zu verlassen. Doch um sich anderswo niederlassen zu können, bräuchten das Paar und seine beiden Kinder ein Zelt. „Mein Mann ist losgezogen, um Holz und Plastikplanen zu suchen“, schrieb Adwan. Er kam mit leeren Händen zurück, ihre bislang letzte Nachricht lautete: „Wir haben beschlossen zu bleiben.“

Die Leute in den Zelten des Protestcamps behaupten, sie würden den Menschen in Gaza beistehen, und wahrscheinlich glauben sie das wirklich. In Wahrheit spielen sie sich mit ihren einfältigen Slogans und einer völlig abstrusen Darstellung des Konflikts, in der die Verantwortung der Terrororganisation Hamas ausgeblendet wird, auf ärgerliche Weise in den Vordergrund und tragen gar nichts zu einer vernünftigen Debatte bei.

Regierungen – auch die österreichische – machen es sich leicht, Zeltlager und Kunstfestivals zu rügen.

Eine ungeschriebene Regel des Nahostkonflikts lautet: Je länger er dauert, desto mehr hört man nur noch das Brüllen der Fanatiker. In ganz kleinem Maßstab erleben wir das jetzt auch in Österreich.

Im antipalästinensischen Lager, das seinerseits zwar keine Zelte aufgeschlagen hat, aber nicht weniger laut brüllt, gilt mittlerweile alles als antisemitisch, was nicht ins enge Korsett einer generellen Rechtfertigung israelischer Politik und Kriegsführung passt. Wenn sogar der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm diese Punzierung verpasst bekommt, hat der Begriff „Antisemitismus“ seinen Sinn verloren. Wahrscheinlich glauben die Leute in diesem Lager, sie würden Israel beistehen.

Der Krach um Hamas-freundliche Provokateure auf der einen und die flächendeckenden Antisemitismus-Bezichtiger auf der anderen Seite überlagert die große Frage, die gerade jetzt ansteht: Soll Israel diesen Krieg jetzt beenden?

Die einfache Antwort, auf die eine komplexere Erläuterung folgt, lautet: Ja.

Nach mehr als 200 Tagen Krieg zeigt der engste Verbündete Israels – die USA – deutliche Zweifel daran, dass eine Fortsetzung der bisherigen Strategie Sinn ergibt. Vergangene Woche wurde bekannt, dass US-Präsident Joe Biden, dessen politische und emotionale Bindung zu Israel außer Frage steht, eine Waffenlieferung an die israelischen Streitkräfte eine Woche zuvor gestoppt hatte. Das ist das bisher greifbarste Zeichen dafür, dass Biden der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu misstraut. Dies entspringt übrigens einer vernünftigen Einschätzung und nicht einer Ausformung von Antisemitismus.

Die Lieferung hätte unter anderem 1800 Stück der 2000-Pfund-Bomben (907 Kilo) beinhaltet, die als die schwersten ihrer Art gelten und im Umkreis von 365 Metern tödliche Wirkung entfalten. Israel hat solche Bomben während des Gazakrieges über dicht besiedeltem Gebiet abgeworfen. Das Weiße Haus nimmt an, dass Netanjahu im Zuge seiner angekündigten Offensive in Rafah, der letzten noch nicht von Bodentruppen durchkämmten Stadt, neuerlich 2000-Pfund-Bomben einsetzen würde – gegen den erklärten Willen der USA. Biden und seine Militärexperten sehen in einer Invasion von Rafah keinen Mehrwert, der die menschlichen Verluste der palästinensischen Bevölkerung und den globalen Imageschaden für Israel aufwiegen kann. Das heißt nicht, dass die noch lebenden Mitglieder der Hamas-Führung damit vom Haken sind. In der Vergangenheit hat Israel Anführer in gezielten Operationen getötet, auch ohne in Gaza militärisch präsent zu sein.

Doch Netanjahu stellt sich aus guten Gründen taub, wenn es um die Fragen nach dem Kriegsende und der Neuordnung von Gaza geht. Er weiß, dass nach dem Krieg Neuwahlen verlangt werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sein politisches Ende bedeuten.

Alles, was von diesen für Gaza und Israel existenziellen Fragen ablenkt, steht einer Suche nach einem Nahostplan im Weg. Ebenso, wer die Hamas für eine Befreiungsorganisation hält, wer von einem Großpalästina oder einem Großisrael träumt und wer hinter der Forderung nach palästinensischer Selbstbestimmung in einem eigenen Staat Antisemitismus wittert.

Regierungen – auch die österreichische – machen es sich leicht, Zeltlager zu verurteilen und Kunstfestivals zu rügen. Sie stehlen sich vor der wichtigen Frage davon, wann dieser Krieg beendet werden soll und wie ihre Position lautet, wenn dann – endlich – eine Friedens- und Wiederaufbaukonferenz stattfinden wird.

Riham Adwan schrieb am Tag, als die Invasion begann: „Ich bin sicher, Gott wird uns schützen!“

Ein Kriegsende wäre besser.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur