Georg Hoffman-Ostenhof: Das Zeitalter des Autoritären
Mit der liberalen Ordnung ist es vorbei. Nun ist das Zeitalter des Autoritären angebrochen. Diese Diagnose stellt Oliver Rathkolb, der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, kürzlich in einer interessanten Diskussion des von Raimund Löw gestalteten „Falter“-Podcasts: „Wir befinden uns an der Schwelle einer Zeitenwende“, meint der Historiker.
Rathkolb scheint ja nur das Evidente auszusprechen. Vom Osten rückt der Autoritarismus in Europa vor: Moskau und Ankara, dann Budapest und Warschau. Und jetzt: Schwappt er nicht mit Schwarz-Blau auf Österreich über? Vom fernen Westen, von Amerika, woher in den vergangenen Jahren über den Atlantik der liberale Geist doch so oft nach Europa herübergeweht hat, ist nicht mehr viel zu erwarten. Mit Donald Trump im Weißen Haus gewiss nicht. Und in Großbritannien, dem anderen Kernland der Demokratie, hat ein dumpfer Nationalismus das Land zum Brexit getrieben. Populistische, rassistische, nationalistische und rechtsextreme Entwicklungen überall.
Eine Zeitenwende erleben wir. Das ist unbestreitbar. Aber ist es wirklich bereits so weit, dass man gleich ein Zeitalter des Autoritären ausrufen kann?
Eine Gruppe von deutschen Soziologen und Philosophen, die vor den Nazis in die USA geflüchtet war, trieb in den 1940er- und 1950er-Jahren die Frage um, wie es dazu kommen konnte, dass die Deutschen so bedingungslos der Hitlerei folgten, sich quasi lustvoll der Tyrannei unterwerfen konnten.
Die Frankfurter Schule, wie sich diese Gruppe nannte, allen voran Theodor Adorno, Erich Fromm und Max Horkheimer, entwickelten (und testeten auch empirisch) im Verlaufe ihrer Studien das Konzept der „autoritären Persönlichkeit“. Eine ihrer Erkenntnisse: Der autoritäre Charakter bildet sich dann heraus, wenn aggressiv-triebhafte und andere Bedürfnisse des Kindes durch elterliche Gehorsamkeitsanforderungen zu stark unterdrückt und schließlich auf andere Menschen, Fremde, sozial Schwächere und Minderheiten gerichtet werden. Diese Charaktere sind für autoritäre Herrschaft empfänglich, sie sehnen sich nach starken Männern.
Noch in den 1970er-Jahren dominierten an den heimischen Universitäten die Rechtsaußen-Fraktionen. Heute sind die freiheitlichen Studenten eine verschwindende Minderheit an den Hochschulen.
Nun bedarf es nicht großer soziologischer Untersuchungen, um zu erkennen, dass dieser von Adorno und Co. beschriebene Persönlichkeitstypus in den vergangenen Jahrzehnten gewaltig auf dem Rückzug war und ist. Im Westen zumindest. Gehorsam gehört nicht mehr zu den allgemein akzeptierten Erziehungszielen – im Gegenteil. Das autoritäre Familienmodell mit dem verbietenden und prügelnden Vater, der rigiden Sexualmoral und den starren Verhaltensnormen hat längst ausgedient.
Und tatsächlich drückt sich das auch in den Einstellungen der Menschen aus. Nehmen wir die USA. Alle Umfragen zeigen, dass die amerikanische Gesellschaft noch nie so liberal war wie jetzt: Der Rassismus ist drastisch zurückgegangen, die Homo-Ehe hat, so wie auch die Legalisierung von Cannabis, inzwischen große Befürworter-Mehrheiten. Vor allem die amerikanische Jugend ist – besonders in den Städten – geradezu atemberaubend fortschrittlich und nichtautoritär gesinnt. Regiert wird das Land aber geradezu vom Prototyp einer „autoritären Persönlichkeit“, Donald Trump, der die Rückkehr zu jener Zeit verspricht, als die Frankfurter Schule ihre Studien betrieb.
Eine Paradoxie, die auch in Westeuropa zu beobachten ist. Auch da sind es die Jungen, die am wenigsten der nationalistischen Versuchung, erliegen. Den Brexit wollen die Alten. Und auch anderswo – etwa in Frankreich und Deutschland – sind es vor allem die älteren Generationen, die empfänglich sind für die Verlockungen des autoritären Populismus. Diese haben offenbar nicht jene sozialpsychologische Revolution mitgemacht, die in den vergangenen Jahrzehnten die westlichen Gesellschaften modernisiert hat.
Bei uns ist diese Spaltung nach dem Alter nicht so klar ausgeprägt. Aber auch da scheint die Gesellschaft weiter entwickelt zu sein als die Politik. Nur zum Beispiel: Mutet es nicht grotesk an, dass Österreich demnächst von Männern mit bunten Kappen regiert wird, die sich gegenseitig Säbelwunden an der Backe zufügen und auf Ehre, Freiheit, Vaterland schwören. Sehen die schlagenden Burschenschaften, die heute die kommende Regierungspartei FPÖ dominieren, nicht irgendwie aus der Zeit gefallen aus?
Man möge sich erinnern: Noch in den 1970er-Jahren dominierten an den heimischen Universitäten die Rechtsaußen-Fraktionen. Heute sind die freiheitlichen Studenten eine verschwindende Minderheit an den Hochschulen. Und die Politiker von morgen sind doch die Studenten von heute.
Hier soll nicht Entwarnung gegeben werden. Die autoritären und antidemokratischen Tendenzen sind ja tatsächlich am Vormarsch. Auch in Richtung der gesellschaftlichen Mitte. Aber kann sich politischer Autoritarismus langfristig etablieren, wenn ihm ein nur schwaches sozialpsychologisches Substrat gegenübersteht? Im Osten, wo die Geschichte im Kommunismus quasi eingefroren war und die Menschen jene Liberalisierungsschübe wie die Amerikaner und die Westeuropäer nicht erlebt haben, können illiberale Demokratien nach Orbán-Art vielleicht auf Dauer gestellt werden. Aber in unseren Breiten?
Noch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die momentane Rechtswende nur ein Intermezzo der Geschichte bleibt. Noch kann verhindert werden, dass das Autoritäre sich zu einem ganzen Zeitalter verfestigt. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht.