Georg Hoffmann-Ostenhof: Angela, die Vierte
2005 lag die SPD von Bundeskanzler Gerhard Schröder zehn Wochen vor der Wahl 16 Prozentpunkte hinter der CDU der Herausforderin Angela Merkel. Zwar verlor SPD-Chef Schröder. Aber er hatte 15 Prozentpunkte (!) aufgeholt. Es war sich ganz knapp nicht ausgegangen.
Zwölf Jahre später: Die Langzeitkanzlerin Merkel stellt sich im September zum vierten Mal zur Wahl. Und ihre Union liegt wieder zweistellig vor den Sozialdemokraten. Und wie seinerzeit Schröder, will nun Martin Schulz mit einer rasanten Aufholjagd doch noch das Kanzleramt erobern.
Aber „Kann Schulz den Schröder machen?“, fragt die Zeitung „Bild am Sonntag“. Kann der ehemalige Präsident des Europaparlaments in den verbleibenden neun Wochen noch das Ruder herumreißen? Um es vorwegzunehmen: Da müsste schon ein Wunder passieren.
Erinnern wir uns: Im Februar dieses Jahres sah es tatsächlich nach einem Wunder aus. Schulz hatte seine Kandidatur angekündigt. Und die Deutschen waren ganz aus dem Häuschen. Warum dem durchaus soliden, aber wenig aufregenden ehemaligen Bürgermeister von Würselen, einem knorrigen Sozialdemokraten mit Zauselbart, plötzlich die Herzen zuflogen und die bis dahin bei 22 Prozent grundelnde SPD in den Umfragen in einer Woche um zehn Prozentpunkte in die Höhe schoss – warum Martin Schulz also solch einen Hype erzeugte, konnte sich nicht wirklich erschließen.
Dieser erwies sich bekanntlich als Strohfeuer. Es war keine Merkel-Müdigkeit, wie vermutet wurde, sondern bloß ein momentaner Merkel-Müdigkeitsanfall. Hinter der kurzen „Schulzomania“ scheint eher politisches Unterhaltungsbedürfnis als ernsthaftes Verlangen nach Veränderung gestanden zu sein. Von Wechselstimmung keine Spur.
Das überrascht nicht. Deutschland geht es ökonomisch blendend. So zufrieden war man zwischen Ost- und Bodensee schon lange nicht. Das Land ist international respektiert und bewundert. Deutschland wird als Stabilitätsanker in einer immer chaotischer werdenden Weltpolitik gesehen. Nicht zuletzt auch wegen Angela Merkel, die durch ihren ruhigen und souveränen Führungsstil beeindruckt und angesichts des Trump-Irrsinns von internationalen Kommentatoren schon mal als die „Führerin der freien Welt“ gefeiert wird.
Unter diesen Umständen gegen sie zu punkten, ist für die SPD schon schwer genug. Dazu kommt, dass Merkel, eine Reihe von sozialdemokratischen Ideen einfach übernommen und in Zusammenarbeit mit dem Regierungspartner SPD verwirklicht hat – Mindestlohn, Elternzeit für Väter, Atomausstieg. Schließlich behielt sie mit ihrer im Herbst 2015 forcierten „Willkommenspolitik“ recht. „Wir schaffen das“, hatte sie damals, als Hunderttausende Flüchtlinge ins Land strömten, gerufen – und wurde dafür gehasst. Jetzt zeigt sich: Deutschland hat „das“ wirklich geschafft. Die sogenannte Flüchtlingskrise wurde ohne „Obergrenze“ effektiv und human gemanagt.
Der Zukunftsplan von Martin Schulz steht im scharfen Kontrast zur bisherigen Spar- und Europapolitik Merkels und hätte durchaus das Zeug, die Unterstützung einer deutschen Mehrheit zu gewinnen. Bloß kommt er wahrscheinlich zu spät.
Nun versucht SPD-Außenminister Sigmar Gabriel sich in der eskalierenden Beziehungskrise zwischen Berlin und Ankara durch besonders scharfe Worte in Richtung des sich immer wüster gebärdenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan von der Kanzlerin abzusetzen, die viel zurückhaltender und vorsichtiger gegenüber der Türkei agiert. Für den SPD-Wahlkampf dürfte das freilich wenig tauglich sein. Wenn es darauf ankommt, wird wohl auch Merkel verbal und diplomatisch aufrüsten. Das kann sie.
Wirklich gefordert könnte sie allein von Schulzens „Zukunftsplan“ werden: Den stellte der SPD-Kandidat vergangene Woche vor und propagiert ihn nun landauf, landab. „Ja, ich will mehr Geld ausgeben – weil es in unserem Interesse ist“ ruft er: Eine Kampfansage an die Austeritätspolitik von Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble.
Es könne doch nicht sein, dass sich diese regelmäßig rühmen, Budgetüberschüsse zu erwirtschaften, gleichzeitig aber längst fällige Sanierungen von Brücken und Straßen nicht durchgeführt, Schulgebäude nicht repariert werden, Lehrer und Kindergartenplätze fehlen und das Land bei der Digitalisierung abgehängt wird – und überhaupt in Deutschland die öffentliche Hand weit weniger investiert als anderswo.
So argumentiert Schulz, und er propagiert eine staatliche Investitionspflicht, eine „Mindestdrehzahl für Investitionen“ – als Gegenstück zur sogenannten Schuldenbremse. „Mehr Ausgaben in Deutschland führen zu Importen, die dann Wachstum sind in anderen Ländern“, analysiert er. So wäre auch der gesamten EU geholfen.
Und wie der neue französische Präsident Emmanuel Macron will der deutsche Sozialdemokrat mit einem gemeinsamen Haushalt der Euro-Staaten den Kontinent auf nachhaltigen Wachstumskurs bringen.
Der Zukunftsplan von Martin Schulz steht im scharfen Kontrast zur bisherigen Spar- und Europapolitik Merkels und hätte durchaus das Zeug, die Unterstützung einer deutschen Mehrheit zu gewinnen. Bloß kommt er wahrscheinlich zu spät. Zu lange haben die Sozis jene konservative Politik mitgetragen, in der Schuldenmachen zur Todsünde erklärt und eine „schwarze Null“ im Budget zu einem Fetisch wurde. Zu diesem Kurs hat die SPD bisher keine klare Alternative angeboten. Wenn sie das jetzt, in quasi letzter Minute, tut – wie glaubwürdig kann das sein?
Wer zu spät kommt, den bestraft Angela.