Georg Hoffmann-Ostenhof: 70 Schüsse

Chinas Kommunisten haben allen Grund, den Geburtstag der Volksrepublik zu feiern – und trotzdem um ihre Existenz zu bangen.

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70 Kanonenschüsse wurden vergangenen Dienstag am Pekinger Platz des Himmlischen Friedens abgefeuert – ein Knall für jedes Jahr des Bestehens der Volksrepublik. Den Jahrestag ihrer Gründung durch Mao Tse-tung begeht die chinesische Führung mit der größten Militärparade, die das Land je gesehen hat. „Es gibt keine Macht, welche die Grundlage dieser großen Nation erschüttern kann“, rief Partei- und Staatschef Xi Jinping, als die Kanonenschüsse verhallt waren.

Wenn die KP Chinas 70 Jahre ihrer Herrschaft so stolz feiert, dann mit gutem Grund. Vor allem, wenn sie Vergleiche zieht. Ihren 70. Geburtstag erlebte die Sowjetunion, dann aber starb sie. Als Xi 2012 an die Macht kam, drückte er sein Erschrecken darüber aus, wie die Kommunistische Partei der UdSSR einst über Nacht verschwunden war: „Eine große Partei war plötzlich weg, einfach so“, sagte Xi bei seinem Machtantritt in einer Rede: „Relativ zur Bevölkerung hatte die KPdSU mehr Mitglieder als unsere Partei heute, aber niemand war Manns genug, aufzustehen und Widerstand zu leisten.“

Offenbar war Xi, als er die Führung in Peking übernahm, über den Zustand der chinesischen Partei derart besorgt, dass er die Funktionäre aller Ebenen dazu verdonnerte, Schulungen über den Kollaps der Sowjetunion zu absolvieren. Nein, ein ähnliches Schicksal dürfe dem chinesischen Kommunismus nicht widerfahren.

Auf den ersten Blick muss Peking das nicht befürchten. Der Kontrast kann schärfer nicht sein. Hatte die Sowjetunion an ihrem 70. Geburtstag bereits Jahrzehnte der ökonomischen Agonie hinter sich, legte China seit den 1980er-Jahren einen historisch bisher nie gesehenen Aufstieg hin.

So repressiv wie unter Xi ist es in China seit Mao Tse-tung nicht mehr zugegangen.

700 Millionen Chinesen wurden in den vergangenen 40 Jahren aus der Armut geholt. Durchschnittliche Wachstumsraten von zehn Prozent katapultierten das Reich der Mitte auf Platz zwei der größten Volkswirtschaften der Welt. Längst ist es nicht mehr bloß die verlängerte Werkbank der westlichen Industrie. Chinesische Firmen machen dieser inzwischen in allen Bereichen Konkurrenz. Mit der pompösen Parade am vergangenen Dienstag demonstrierte Peking mit seinen Panzerkolonnen, den modernsten Raketen und Drohnen, dass mit China nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch militärisch zu rechnen ist.

Und doch scheint sich das Regime, das zu Recht auf eminente Erfolge stolz sein kann, nicht wirklich sicher zu fühlen. Xis Satz, wonach nichts und niemand „die Grundlagen dieser großen Nation erschüttern kann“, klang dann auch nicht so sehr als selbstbewusste Tatsachenfeststellung, sondern eher als ängstliche Beschwörung.

7 Jahre steht nun Xi Jinping an der Spitze. Von Anfang an machte er klar, dass er kein chinesischer Gorbatschow ist, dass es mit ihm so etwas wie Glasnost und Perestrojka nicht geben würde. Ganz im Gegenteil.

In einer Antikorruptionskampagne unvorstellbaren Ausmaßes säuberte er Partei und Staatsapparat: Seit 2012 wurde gegen 2,7 Millionen Funktionäre ermittelt, 1,5 Millionen wurden bestraft – darunter sieben Mitglieder des Politbüros und über 20 Generäle. Zwei mächtige Rivalen innerhalb der Partei, von denen Xi weggeputscht zu werden fürchtete, wurden gestürzt und vor Gericht gebracht. Die Partei ist inzwischen völlig auf den großen Führer ausgerichtet, dessen gesammeltes „Gedankengut“ als Pflichtlektüre gilt. 2017 hat Xi zudem die bisher geltende Regel, wonach der Partei- und Staatschef nur zwei mal fünf Jahre im Amt sein darf, abgeschafft, sich de facto zum Präsidenten auf Lebenszeit gemacht.

So repressiv wie unter Xi ist es in China seit Mao Tse-tung nicht mehr zugegangen. Regimekritiker, unbotmäßige Künstler und Bürgerrechtsanwälte werden en masse eingesperrt, in Provinzen mit muslimischer Bevölkerung darbt über eine Million in sogenannten Umerziehungslagern. Und wenn es ums Internet und soziale Medien geht, hält es Xi offenbar mit der Erkenntnis, die einst Frankreichs Ludwig XIV. seinem Sohn mitgab: „Die Kunst des Regierens besteht darin, zu wissen, was alle Prinzen denken, was das Volk vor uns geheim hält und dieses lückenlos zu überwachen.“

Nicht nur das Sowjet-Ende, auch die „Farben-Revolutionen“ in Europa und Zentralasien und die Massenproteste in Nahost, die scheinbar auf die Ewigkeit ausgelegte Regime zu Fall brachten, dienen den Pekinger Machthabern als warnende Beispiele. Bei der Berichterstattung über derartige Entwicklungen arbeitet der gewaltige chinesische Zensurapparat besonders fleißig. Man fürchtet die Ansteckung.

So auch jetzt, da im eigenen Machtbereich, in Hongkong, der ehemaligen britischen Kronkolonie, seit Monaten – so auch am Tag des 70-Jahr-Spektakels – die Massen mit der Forderung nach Demokratie auf die Straße gehen. Bisher ist es Xi gelungen, ein Überschwappen der Bewegung auf das Festland zu verhindern. Was aber, wenn, wie vorausgesagt, demnächst die chinesische Wirtschaft in eine Rezession absackt? Kann dann die Firewall halten?

Wird nicht spätestens dann Xi ein Exempel statuieren wollen und die mutige Hongkonger Demokratiebewegung blutig – nach der Art des Tian’anmen-Massakers des Jahres 1989 – niederschlagen?

Diese düstere Perspektive erscheint zumindest wahrscheinlicher, als dass sich Peking zu ernsthaften Konzessionen bewegen ließe.

Georg Hoffmann-Ostenhof