Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-OstenhofDr. Jekyll, Mr. Hyde

Dr. Jekyll, Mr. Hyde

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Ein alter Mann springt nackt aus der Dusche, jagt das überraschte Zimmermädchen durch die Zimmerfluchten der luxuriösen Hotelsuite; diese kann die Sexattacken abwehren und sich schließlich vor dem Wüstling retten. So schildert die betroffene Angestellte der New Yorker Sofitel-Nobelherberge ihr Zusammentreffen mit Dominique Strauss-Kahn am 14. Mai. So sieht es auch die US-Anklagebehörde.

Eine ebenso erbärmliche wie widerliche Szene – die Weltgeschichte macht. Der tiefe Fall von Strauss-Kahn, dem ehemaligen Chef des Internationalen Währungsfonds (er trat vergangenen Donnerstag zurück), der beste Aussichten hatte, der nächste französische Präsident zu werden, hat zwei Seiten.

Die negative zuerst: Ob die Erzählung der Zimmerfrau nun stimmt oder nicht, ob Strauss-Kahn schuldig ist und verurteilt wird oder nicht – seine politische Karriere ist endgültig zu Ende. Und das ist zutiefst zu bedauern. Denn wie immer abstoßend, ja möglicherweise sogar verbrecherisch er seine Erotomanie ausgelebt haben mag (bis zu einem allfälligen Urteil gilt die Unschuldsvermutung) – Strauss-Kahn war eine der ganz wenigen Lichtgestalten der internationalen Politik unserer Zeit. Vielleicht sogar die einzige neben Barack Obama.

Das mag zwar schwer zu akzeptieren sein. Aber das Phänomen des Dr. Jekyll und Mr. Hyde gibt es. Und die Züge des Dr. Jekyll waren bei Strauss-Kahn im Übermaß ausgeprägt.

Der französische Sozialist hat den Internationalen Währungsfonds (IWF) aus einer maroden und global verhassten Organisation, auf die bereits Nachrufe geschrieben wurden, eine allseits geachtete gemacht, die nicht mehr wie zuvor nur die Interessen des großen Kapitals vertritt, sondern ganz bewusst auf die Hilfe für die armen Länder hin orientiert ist. Unter seiner Ägide gelang es innerhalb des IWF, die Totaldominanz der westlichen Industriestaaten zurückzudrängen und das Gewicht der so genannten Schwellenländer im Entscheidungsprozess zu erhöhen.
In der Weltwirtschaftskrise 2008 erwies sich der ehemalige französische Finanzminister als ein Mann, der fähig war, „kühne Entscheidungen zu treffen – als ein effektiver Politiker und kompetenter Ökonom“, schreibt Martin Wolf in der britischen „Financial Times“. Der sonst so nüchterne Chefökonom dieses liberalen Wirtschaftsblatts gerät geradezu ins Schwärmen. Ohne Strauss-Kahn hätte Europa die so genannte Eurokrise bisher nicht so gut überstanden: „In den entscheidenden Momenten gelang es ihm, die zerstrittenen Europäer zusammenzubringen.“
Ähnlich Dominique Moïsi, der Pariser Star-Politikwissenschafter: „Zu einem ungünstigeren Zeitpunkt für Europa könnte der Skandal nicht kommen“, schreibt er. „Strauss-Kahn war ein hoch geachteter kompetenter Verhandler, ein Mann, der kraft seiner Persönlichkeit und seiner Argumente zu überzeugen verstand.“ Gerade in den Schicksalsstunden der EU und der Währungsunion werde er fehlen. Und jenen Männern und Frauen, die für den Einzug in den Élysée-Palast 2012 infrage kommen, fehle es an politischem Format, an Glaubwürdigkeit und der intellektuellen Kraft eines Strauss-Kahn. Er werde kaum zu ersetzen sein.

Auf den positiven Aspekt der so peinlichen Angelegenheit brachte mich ein Gespräch mit Joëlle Stolz, der Wien-Korrespondentin der französischen Zeitung „Le Monde“. Sie hat Jahre in Ländern der arabischen Welt, Afrikas und Lateinamerikas gelebt und kann nachempfinden, wie die New Yorker Ereignisse um den IWF-Chef in diesen Ländern aufgenommen werden. Gerade das, woran man in Frankreich so Anstoß nimmt – das entwürdigende Bild von Strauss-Kahn in Handschellen –, mache in den Ländern der Dritten Welt einen gewaltigen Eindruck.
Das vermeintliche Opfer der sexuellen Belästigung ist ein armes Zimmermädchen, eine alleinerziehende Mutter, eine Immigrantin aus Guinea, der vermeintliche Täter ein weißer, weltberühmter Westeuropäer, der die Welt regiert.
Sexuelle Attacken auf weibliche Domestiken durch höhergestellte Männer sind in Entwicklungsländern, und nicht nur dort, Alltag. Leisten die angegriffenen Frauen Widerstand, werden sie entlassen, oder man beruhigt sie mit etwas Geld. Die Mächtigen verfügen über die Körper der Menschen. Diese Frauen haben absolut keine Chance.

Und plötzlich sieht die Welt, wie ein Mann des großen Geldes und der großen Politik, der gewohnt ist, immer zu gewinnen, vor den Richter gezerrt wird, wie die US-Staatsanwaltschaft eher der aus Afrika stammenden Zimmerfrau glaubt als ihm. „Das ist so revolutionär wie die Bilder von der Enthauptung Ludwigs XVI.“, freut sich Joëlle Stolz.
Stimmt da noch jene Vorstellung, die das antiimperialistische Bewusstsein seit Jahrzehnten von Amerika hat? Ein wenig ins Rutschen ist diese Weltsicht bereits durch die Wahl Obamas geraten: Da stimmte plötzlich die politische Farbenlehre nicht mehr, wonach Weiß immer oben und Schwarz immer unten ist.

Die Strauss-Kahn-Affäre trifft zudem auf den arabischen Frühling, in dem die Menschen dieser Region aufhören, sich als Opfer zu fühlen, und zunehmend ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Der Skandal passiert vor dem Hintergrund einer Welt, die immer weniger bereit ist, sich dem reichen Westen unterzuordnen.

Das hat just der IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn klarer als andere Weltpolitiker erkannt.

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Georg Hoffmann-Ostenhof