Georg Hoffmann-Ostenhof: Erdogans Waterloo

Georg Hoffmann-Ostenhof: Erdogans Waterloo

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Da sind sich alle einig: Sieger der türkischen Parlamentswahlen des 7. Juni ist die Demokratie. Nicht nur wurde die AKP des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die seit über einem Jahrzehnt mit absoluter Mehrheit regiert, auf ein erträgliches Maß zurechtgestutzt – sie bleibt mit 42 Prozent der Stimmen zwar die stärkste Partei, die Alleinherrschaft des islamischen Konservativismus ist aber jetzt Vergangenheit. Auch wurde der scheinbar unaufhaltsame Weg der Türkei in einen autoritären Staat blockiert. Dem Erdogan-Projekt, den türkischen Parlamentarismus durch ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem zu ersetzen, haben die Türken eine klare Absage erteilt. Erdogan erlebt sein Waterloo.

Die Wahl bedeutet für das Land einen Demokratieschub par excellence. Und zwar bereits den zweiten in nicht einmal zwei Jahrzehnten. Die erste Welle der Demokratisierung wurde von Erdogan selbst und seiner Partei losgetreten. Die aktuelle rollt nun gegen ihn. Und in beiden Fällen waren und sind die Protagonisten dieser Entwicklung Kräfte, von denen dies niemand erwartet hätte. Zuerst eine Islamistenpartei. Und jetzt linksradikale Kurden. Seltsame Agenten des Fortschritts.

Die rettende Kraft kommt nicht aus dem entwickelten Westen des Landes, sondern aus dem wilden Osten

Erinnern wir uns: Die politische Entmachtung der jahrzehntelang alles bestimmenden und immer wieder putschenden Militärs, war nicht, wie man hätte erwarten können, das Werk der Sozialdemokraten, der Partei der westtürkischen nach Europa orientierten Eliten – im Gegenteil: diese verharrten im engen Bündnis mit den Generälen –, sondern das der AKP, einer einst radikal-islamischen Partei. Nicht die Istanbuler Bourgeoisie und die urbanen säkularen Mittelschichten, sondern muslimische Politiker aus den armen Vorstädten und den rückständigen Gebieten Anatoliens führten Anfang des Jahrhunderts das Land an die Tore der EU und setzten (zumindest anfangs) Schritte in Richtung europäischer Rechtstaatlichkeit. Es waren auch sie, die sich daran machten, Frieden mit den Kurden, dieser so lange unterdrückten Minderheit, zu schließen.

Und jetzt, da Erdogan von einem Reformator zu einem Usurpator geworden war, kommt wiederum die rettende Kraft nicht aus dem entwickelten Westen des Landes, sondern aus dem wilden Osten: Die Kurden-Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) übersprang erstmals die Wahlhürde von zehn Prozent und kam sogar auf 13 Prozent.

Und nicht nur wahlarithmetisch haben sich damit die politischen Kräfteverhältnisse dramatisch verschoben. Mit der HDP ist die einzig wirklich zeitgemäße Kraft auf der politischen Bühne des Landes erschienen.

Es ist paradox: An der Wiege dieser Kurden-Partei standen die in den Bergen gegen das Regime kämpfenden Guerilleros der im Westen als terroristisch eingestuften Kurdischen Arbeiterpartei PKK mit ihrem geliebten, ursprünglich stalinistischen Anführer Abdullah Özalan – der seit Langem im Gefängnis sitzt. Und die HDP war als politische Kraft definiert, die sich ausschließlich um die Rechte der kurdischen Minderheit kümmert. Dann – und das ist gar nicht so lange her – öffnete sie sich, schloss Allianzen, erweiterte ihre Basis und präsentierte sich jetzt im Wahlkampf als linke und säkulare Partei der Vielfalt und des friedlichen Zusammenlebens der Türken aller ethnischen und religiösen Schattierungen. Sie hat demonstrativ einen Schulterschluss mit der Gezi-Protestbewegung vollzogen.

Die Ironie der Geschichte: Mit seiner Kurden-Politik hat Erdogan erst den Boden bereitet für den spektakulären Aufstieg jener Partei, die ihm jetzt seine Grenzen aufzeigt

Und so ziehen für die Kurden-Partei auch Abgeordnete aus den verschiedenen Minderheiten ins Parlament ein: Christen, Armenier, Jesiden und natürlich Kurden. Fast die Hälfte der nun gewählten 80 Abgeordneten der HDP sind Frauen. Und das erste Mal in der türkischen Geschichte hat ein bekennender Schwuler kandidiert.

Die wirkliche Meisterleistung von Selahattin Demirtas, dem jungen sympathischen Chef der HDP, aber besteht darin, dass er gleichzeitig mit der Öffnung seiner Partei die konservativen, religiösen Kurden, die bisher AKP gewählt hatten, Erdogan abspenstig gemacht hat. In fast allen Teilen des kurdischen Gebiets ist die HDP stärkste Partei geworden. Nicht wenige der Stämme und Clans dieser noch weitgehend feudal verfassten Region haben Erdogan einfach die rote Karte gezeigt und sind zur Kurden-Partei übergelaufen.

Dieser hatte in ihren Augen auch allzu foul gespielt: Als der Islamische Staat IS sich anschickte, die syrisch-kurdische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei einzunehmen und deren Einwohner zu massakrieren, kam Ankara den Eingeschlossenen nicht zur Hilfe. Und Erdogan verkündete, die kurdischen Kämpfer, die sich gegen die IS-Horden verteidigen, seien so verdammenswert wie diese. Und dass er den Koran schwenkend gegen die Gottlosen von der HDP wetterte, fanden nicht nur die konservativen Kurden als Sakrileg: So dürfe man mit der Heiligen Schrift nicht Politik machen.

Die Ironie der Geschichte: Mit seiner Kurden-Politik hat Erdogan erst den Boden bereitet für den spektakulären Aufstieg jener Partei, die ihm jetzt seine Grenzen aufzeigt.

Es wäre vermessen, voraussagen zu wollen, was jetzt kommt. Die verschiedensten, meist höchst unerquicklichen Koalitionsregierungen sind denkbar. Auch Minderheitsregierungen. Baldige Neuwahlen sind ebenso wenig auszuschließen wie eine Phase von Unregierbarkeit und Instabilität.

Was immer auch die Türkei erwarten mag – den 7. Juni 2015 sollte man jedenfalls feiern: als Tag, an dem die Türken unmissverständlich Nein zur Putinisierung ihres Landes sagten und an dem das erste Mal in der türkischen Geschichte eine moderne – und wichtig: nicht-nationalistische – demokratische Linke ihren starken Auftritt hinlegte.

Georg Hoffmann-Ostenhof