Georg Hoffmann-Ostenhof: Fulminante Angela
Als rhetorisch begabt gilt Angela Merkel nun wirklich nicht. Diesmal, bei ihrer vorwöchigen Rede im Deutschen Bundestag, war die Kanzlerin noch dazu angeschlagen. Eine Verkühlung ließ sie krächzen. Merkel las anfangs ab, verhaspelte sich andauernd. Als sie aber dann zum thematischen Zentrum ihrer Ansprache, der Flüchtlingsfrage kam, schaute sie von ihrem Manuskript auf, begann frei zu formulieren und ihre Mimik und Gestik zeigten plötzlich eine bisher bei ihr nicht bekannte kräftige Lebendigkeit. Es wurde eine fulminante Rede. Der Applaus – auch von der Opposition – wollte kein Ende nehmen.
Seit Wochen nun wird Merkel von den Medien „runtergeschrieben“. Sie habe mit ihrer „Willkommenskultur“ die Liebe der Deutschen nun verloren, heißt es. Ihre Partei, die CDU, verweigert ihr zunehmend die Gefolgschaft. Und „Der Spiegel“ titelte erst jüngst über einem Bild einer resignierend nach unten blickenden Merkel: „Die stille Kapitulation“.
Von Kapitulation keine Spur. Geradezu trotzig wiederholte sie ihr Mantra „Wir schaffen das“ und lehnte jegliche – von der bayerischen CSU und einer immer breiteren Öffentlichkeit geforderte – Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen ab. „Die simple Abschottung wird uns das Problem nicht lösen“, sagte sie.
Merkel sprach auch von Flüchtlingskontingenten – was vielfach als Nachgeben Merkels interpretiert wurde: Kontingentieren hieße nichts anderes als Obergrenzen einziehen, wird nun moniert. Dabei scheint es sich aber um ein Missverständnis zu handeln. Die propagierten Obergrenzen sind – etwa unter dem Motto: Das Boot ist voll – national konzipiert. Merkels Kontingente aber meinen etwas gänzlich anderes.
Die Chancen für eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik stehen gar nicht so schlecht.
Da geht es um eine europäische Flüchtlingspolitik: In Zusammenarbeit mit der Türkei, dem Land, von dem aus die meisten Syrer, Iraker und Afghanen den gefährlichen und „illegalen“ Weg nach Europa antreten, soll ein geregelter und legaler Aufnahmemechanismus geschaffen werden. Europa hilft den Türken finanziell bei der Beherbergung und Versorgung der Flüchtlinge im Land und erklärt sich bereit, jedes Jahr ein bestimmtes Kontingent (von einer Million?) direkt zu übernehmen. Dafür muss Ankara – gemeinsam mit Griechenland – dafür sorgen, dass die EU-Außengrenzen kontrolliert werden, die Balkanroute also der Vergangenheit angehört. Diese Kontingente sollen nach einem aus Arbeitslosenrate, Wirtschaftskraft und anderen Kriterien konstruierten Schlüssel auf die EU-Länder aufgeteilt werden.
Das sei utopisch, wird kritisiert. Und in der Tat sind die bisherigen Erfahrungen mit diesem Plan nicht sehr ermunternd. Einige Staaten – wie Polen, Ungarn und die baltischen Länder – verweigern rundweg die Aufnahme von Flüchtlingen. Hat das Merkel-Projekt unter diesen Bedingungen überhaupt eine Chance?
Doch, doch: Frankreich, das sich bisher eher restriktiv gegenüber Asylwerbern aus Nahost zeigt, wird sich von Berlin wohl mittelfristig überzeugen lassen: Dafür hat sich Deutschland gerade bereit erklärt, an der von Paris angeführten militärischen Anti-IS-Allianz aktiv mitzuwirken. Italien, Griechenland und Spanien als Staaten mit EU-Außengrenzen haben ein natürliches Interesse am Merkel-Modell. Auch die EU-Balkanländer hätten allen Grund, sich mit diesem anzufreunden.
Und gegen den Widerstand – vor allem der Ostländer – kann man etwas unternehmen. Etwa mit Anreizen, wie sie der Finanzinvestor und Philanthrop George Soros vorschlägt: Die EU müsse während der ersten zwei Jahre jährlich 15.000 Euro pro Asylwerber für Wohnung Gesundheit und Ausbildung bereitstellen – und so den Mitgliedsstaaten die Aufnahme von Flüchtlingen schmackhafter machen. Diese Mittel könnten durch die Ausgabe von langfristigen Anleihen aufgebracht werden, die sich den größtenteils ungenutzten AAA-Kreditstatus der EU zunutze machen: „Dies hätte den zusätzlichen Vorteil eines moralisch gerechtfertigten Stimulus für die europäische Wirtschaft“, meint Soros.
Ob sich Frau Merkel in ihrer Partei, ihrem Land und in Europa mit ihrem Kurs durchsetzt, ist natürlich ungewiss. Und auch ihr ist klar, dass eine europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik, die diesen Namen verdient, nicht von heute auf morgen etabliert werden kann. Bewundernswert ist aber, wie die deutsche Politikerin, deren Politstil bisher das vorsichtige Abwarten und das Schielen auf Mehrheitsmeinungen war, nun mutig gegen die immer stärker werdenden nationalistischen und populistischen Tendenzen ankämpft und dezidiert auf die Stärkung Europas setzt.
Und siehe da: Zwar hat sie heute nicht mehr jene traumhaften Zustimmungswerte wie noch vor dem Sommer. Ihre Standhaftigkeit wird dennoch honoriert: In den vergangenen Tagen stiegen ihre Popularitätswerte wieder an. Sie hat sich in der Suche um eine Lösung der Flüchtlingsfrage quasi neu erfunden. Man kann dieser „neuen“ Angela nur Erfolg wünschen. Denn ihr Erfolg würde einen gewaltigen Schritt aus der Krise, in der Europa steckt, bedeuten.
PS: Wer Werner Faymann jüngst im ORF-Bürgerforum beobachtete, stellte mit Erstaunen fest: Da waren nicht mehr das ewige Lavieren und der übliche Politiker-Talk. Der österreichische Kanzler fand klare Worte. Er schlug sich ausgezeichnet. Faymann zeigte Format. Die deutsch-österreichische Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage wirkt offenbar überaus belebend.