Georg Hoffmann-Ostenhof: Gratulation, Deutschland!

Im Land selbst wird an der neuen Großen Koalition herumgemäkelt – Europa kann sich aber freuen.

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Ein Seufzer der Erleichterung ging durchs Land: 135 Tage Regierungslosigkeit waren den Deutschen dann doch ein wenig unheimlich. Das war nun vorbei. Trotzdem wollte sich nicht wirklich Freude einstellen. Für die am vergangenen Mittwoch nach langen zermürbenden Verhandlungen vereinbarte Große Koalition zwischen der Angela-Merkel-CDU, der bayerischen CSU und der SPD unter Martin Schulz – allgemein GroKo genannt – konnte sich kaum jemand entflammen. Im Gegenteil. Ein allgemeines Gemäkel und Gegrummel hob an. „Ein schales Gefühl“ beschleicht etwa Thomas Schmid in der konservativen Tageszeitung „Die Welt“. Allerorten wird die GroKo-Perspektive als „kraftlose Neuauflage“ des schon Gehabten gesehen. Am freundlichsten sind noch Kommentare wie jener der „Süddeutschen Zeitung“, die resignierend meinen, dass Besseres unter den gegebenen Umständen eben nicht drin gewesen sei.

Ist diese miese Stimmung angebracht? Verspricht die vierte Merkel-Regierung – die bereits dritte Große Koalition in Deutschland seit 2005 – tatsächlich nur fades politisches Weiter-so? Mitnichten.

Wer sich ernsthaft die 177 Seiten starke Regierungsvereinbarung durchliest und sieht, was sich die GroKo vornimmt, der muss zum gleichen Schluss kommen wie der französische Publizist Bernard Guetta: Das Berliner Abkommen stellt einen „grand tournant en Allemagne“ – eine große politische Wende der deutschen Politik – dar.

Gewiss macht die personelle Seite nicht gerade einen zukunftsträchtigen Eindruck. Da hätten sich, so ätzt Thomas Schmid, zwei Parteivorsitzende, die ihre beste Zeit hinter sich haben, und ein Parteivorsitzender, „der nie eine gute Zeit gehabt hat“, zusammengetan: „Wie drei Wankende stützen sie sich gegenseitig.“

Und viele im Land haben durchaus verständliche Gründe, die neue GroKo nicht zu mögen. Die CDU-Funktionäre sind wütend, dass sich ihre Verhandler von der SPD über den Tisch ziehen haben lassen. In der Tat bekamen die Sozialdemokraten alle Schlüsselministerien – Außen, Soziales, Finanzen – zugesprochen. In der SPD wiederum geht die Befürchtung um, noch einmal vier Jahre als Junior-Partner in einer Merkel-Regierung werde die Partei nicht überleben. Die Jusos drängen auf eine Erholungskur in der Opposition. Und große Teile der deutschen Wirtschaft blicken mit Schaudern auf die sozialdemokratische Handschrift im Regierungspakt: Die vermeintlich so bewährte Politik des langjährigen Finanzministers und obersten Sparmeisters Wolfgang Schäuble werde nun von dessen sozialdemokratischem Nachfolger über Bord geworfen.

Da wird ein neues Kapitel der deutschen Politik aufgeschlagen. Und dieses liest sich sehr französisch.

Und das stimmt auch. Im Wirtschaftskapitel ist von „Haushalt konsolidieren“ kaum, umso häufiger aber von „investieren“ die Rede. Sechs Milliarden Euro sollen für Forschung und Bildung, zwölf Milliarden für Familienpolitik, vier für sozialen Wohnbau, zwölf für den Internet-Breitbandausbau lockergemacht werden. Deutschland mit seinem Budgetüberschuss kann es sich leisten. Mit diesen öffentlichen Investitionsvorhaben kommt die zukünftige Koalition auch der übrigen EU und den internationalen Institutionen entgegen, die Berlin seit Jahr und Tag drängen, doch die Ausgaben zu erhöhen, damit Europa so auf einen nachhaltigen Wachstumskurs gebracht wird.

Von der Knausrigkeit geht die kommende Regierung nun nicht nur auf nationaler Ebene ab. In der Vereinbarung ist auch eine Erhöhung der deutschen Beiträge zum europäischen Haushalt vorgesehen. Die Euro-Zone soll ein eigenes Budget für gemeinsame Investitionen bekommen. Die Gründung eines Europäischen Währungsfonds wird anvisiert. Eine Besteuerung auf Finanztransaktionen soll nicht bloß wie in der Vergangenheit „erwogen“, sondern wirklich eingeführt werden. Mit Steuerharmonisierung will man verhindern, dass mächtige Multis die europäischen Staaten gegeneinander ausspielen und so ihre Gewinne einstreifen können, ohne viel davon abgeben zu müssen. Alles Vorhaben, die – wenn sie bisher vorgeschlagen wurden – auf ein mehr oder minder striktes Nein aus Berlin stießen.

Da wird ein neues Kapitel der deutschen Politik aufgeschlagen. Und dieses liest sich sehr französisch. Die Absicht, mit Emmanuel Macron gemeinsame Sache bei einer großen Reform Europas zu machen, ist auf fast jeder Seite des Koalitionsvertrages zu spüren.

Die neue deutsche Regierung könnte tatsächlich das signalisieren, was im Regierungsprogramm ganz am Anfang als Überschrift steht: „Aufbruch für Europa“.

An Paradoxien war die Regierungsbildung nicht arm: Die Union und die SPD, beide bei den Wahlen sehr geschwächt und durch lange Machtausübung merklich abgenützt, haben nicht vor, den durchaus erträglichen Status quo im reichen Deutschland bloß zu verwalten – sie präsentieren sich als große Erneuerer. Die SPD, der man schon vielfach das Sterbeglöckchen geläutet hat, holte bei den Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien politisch und personell mehr heraus als je zuvor. Und Martin Schulz – der Mann, der dieses Kunststück federführend zustande gebracht hat – wurde gleich danach von seiner Partei völlig demontiert.

Noch steht die Regierung nicht. Noch könnte die SPD-Basis in einem Referendum ein Veto einlegen. Es sieht aber ganz so aus, als ob die GroKo trotz aller Geburtswehen demnächst das Licht der Welt erblicken wird. Es sollte gratuliert werden.

Georg Hoffmann-Ostenhof