Georg Hoffmann-Ostenhof: Kein Kalter Krieg
Es herrscht fürwahr kein Mangel an Hinweisen darauf, dass die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen auf dem tiefsten Punkt seit Ende des Kalten Krieges angelangt sind. Vom Himmel über Aleppo über die Schlachtfelder der Ostukraine bis zum amerikanischen Wahlkampf – Wladimir Putin ist allgegenwärtig. Erleben wir also gerade einen neuen Kalten Krieg?
Putins Luftwaffe bombardiert in kriegsverbrecherischer Weise in Syrien. Die Krim halten die Russen besetzt, Putins Soldateska und die von Moskau gesponserten Separatisten treiben im ukrainischen Donbass weiter ihr Unwesen. Und Washington ist sich absolut sicher, dass die WikiLeaks-Enthüllungen über Interna der US-Demokraten im Zusammenhang mit dem Wahlkampf von Hillary Clinton ein Werk von Hackern russischer Geheimdienste sind.
Nicht genug damit: Der Kreml beunruhigt osteuropäische EU- und NATO-Staaten mit der Stationierung von atomwaffentauglichen Raketen in der zwischen Polen und Litauen liegenden russischen Exklave Kaliningrad/Königsberg. Und Putin kündigte ein russisch-amerikanisches Abkommen zur gemeinsamen Entsorgung von überschüssigem Plutonium auf. Die von Moskau gestellten Bedingungen, unter denen man bereit sei, diesen Vertrag wieder in Kraft treten zu lassen, können absurder nicht sein: Aufhebung sämtlicher Sanktionen gegen Russland, Entschädigungen für Verluste aufgrund der Sanktionen. Eine Provokation.
Das klingt alles tatsächlich wie die Rückkehr zu den Zeiten des Kalten Krieges.
Was die Rhetorik betrifft, spricht sogar einiges dafür. Putin stellt seine Politik als rein defensiv dar. Wie damals ist für ihn der Westen der ewige Aggressor, der das heilige russische Vaterland bedroht. Haben sich nicht NATO und EU nach Auflösung des Warschauer Pakts aggressiv bis an die Grenzen Russlands vorgeschoben? Muss da Moskau nicht dagegenhalten? So fragt Putins Propaganda, die von dessen Landsleuten weitgehend geglaubt wird – aber auch in Europa nicht wenige offene Ohren findet.
Dieses Narrativ vergisst bloß, dass die Länder Osteuropas, des Baltikums und des Balkans vom Westen nicht erobert und auch nicht in dessen Wirtschafts- und Militärorganisationen gezwungen wurden und werden. Im Gegenteil: Sie bettelten – nicht zuletzt aus berechtigten historischen Ängsten vor Russland – um Aufnahme.
Für die Sowjetunion stellten die USA und deren europäische Verbündete damals tatsächlich eine Bedrohung dar (und vice versa). Russland war in dieser Zeit wirklich eine Supermacht. Das kommunistische Riesenreich Eurasiens stand darüber hinaus dem Westen als Systemkonkurrenz gegenüber. Noch bis in die 1970er-Jahre schien für viele – trotz der offensichtlichen Insuffizienz der östlichen Kommandowirtschaft – noch nicht entschieden zu sein, wer gewinnt: der Kapitalismus unter der Führungsmacht USA oder der von Moskau angeleitete Kommunismus.
Was der Sowjetunion einst die Nelson Mandelas und Fidel Castros waren, sind dem Putin-Russland heute die Donald Trumps und Marine Le Pens.
Das gewaltige Atomwaffen-Arsenal ist heute das Einzige, was Russland noch zu einer relevanten Größe in der Welt macht. Dass Barack Obama Russland eine Regionalmacht nannte, war nicht bloß Ausdruck von Spott, sondern auch eine realistische Einschätzung.
Militärisch ist Russland dem Westen auf allen Ebenen hoffnungslos unterlegen. Zudem „liegt die einstige industrielle und wissenschaftliche Macht des Sowjetkolosses in Trümmern“, schreibt Azeem Ibrahim, Politologe an der Universität von Oxford, „und wurde durch eine – von einer kleine Clique der Präsidentenfreunde kontrollierten – engen Rohstoff-Ökonomie ersetzt; unabhängiger Unternehmergeist wird entweder erstickt oder vom schwarzen Markt absorbiert.“
Und so sehr die Sowjetunion grausam gescheitert ist: Sie hatte mit dem Kommunismus eine ideologisch-universelle Idee, die zumindest für einige Jahrzehnte für viele weltweit attraktiv erschien. Moskau besaß das, was man jetzt „soft power“ nennt. Und was hat Putin heute zu bieten? Einen autoritären, modernitätsfeindlichen und bigotten Nationalismus.
Der mag Rechtsradikalen gefallen und antiliberalen Amerika-Hassern Orientierung geben. Ein ernsthaftes ideologisches Angebot für breitere Bevölkerungsschichten außerhalb Russlands wird der Putinismus nie werden.
Nur zur Illustration: Was der Sowjetunion einst die Nelson Mandelas und Fidel Castros waren, sind dem Putin-Russland heute die Donald Trumps und Marine Le Pens.
Auch wenn sich Putin in die „gloriose“ Zeit des Sowjetreichs zurücksehnen mag, von Rückkehr des Kalten Kriegs kann nicht gesprochen werden. Dazu fehlen einfach jene Kräfteverhältnisse, die damals bestanden.
Gewiss ist Putin ein extrem talentierter Taktiker. Das zeigt nicht zuletzt seine Nahostpolitik. Mit seinen beschränkten materiellen und ideellen Ressourcen hat er freilich langfristig keine Chance. Aber gerade diese Schwäche macht ihn so gefährlich, so unberechenbar.
Im Kalten Krieg gab es ein Muster, erklärte kürzlich ein westlicher Diplomat: Man eskalierte langsam bis zu einem Punkt, an dem beide Seiten gemeinsam verstanden, dass es Zeit war aufzuhören. Solche unausgesprochenen Verhaltensregeln, auf die man sich weitgehend verlassen konnte, gelten heute nicht. Und weil wir keinen Kalten Krieg erleben, kann die Russland-Politik auch nicht in den alten Kategorien von Entspannung und Abschreckung gedacht werden. Es gilt, nach neuen Wegen zu suchen.
Gefunden sind die freilich noch nicht. Man darf sich fürchten.