Georg Hoffmann-Ostenhof

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Europa bleibt doch nichts erspart. Bis vor Kurzem war klar: Wenn nicht Dramatisches unternommen wird, zerfällt die Eurozone, und damit wäre auch die Existenz der EU gefährdet. Seit ein paar Wochen hat sich die Lage etwas entspannt, das Ende des europäischen Projekts steht nicht mehr direkt auf der Tagesordnung. Und schon scheint eine neue Bedrohung auf Europa zuzukommen: die Separatisten. Sie wittern Morgenluft. Aber wie gefährlich sind sie wirklich?

Es sieht jedenfalls so aus, als ob innerhalb der Nationalstaaten die Fliehkräfte in dem Maße stärker werden, als es gelingt, diese im gesamteuropäischen Rahmen in Schach zu halten.

Und dabei sind weniger jene obskuren separatistischen Strömungen gemeint, die wir schon zur Genüge kennen, wie etwa die rechtsradikale italienische Lega, welche die Gründung eines eigenen norditalienischen Staates namens Padanien auf ihre Fahnen geschrieben hat – die Lega steckt in einer Krise. Oder die Südtiroler Schützen, die neuerdings wieder in voller Montur wie vor fünfzig Jahren für „Weg von Rom“ demonstrieren – sie haben kaum seriöse Erfolgschancen. Auch der inzwischen schwer geschwächten ETA, die auf der Iberischen Halbinsel über Jahrzehnte hinweg eine baskische Unabhängigkeit herbeibomben wollte, gehört wohl nicht die Zukunft.

Diesmal ist es aber ernst – und ganz ohne Mummenschanz. Die vergangenen Tage und Wochen haben es gezeigt: Die Perspektive, dass in absehbarer Zukunft mehrere neue europäische Staaten das Licht der Welt erblicken – und nicht im „wilden Osten“ des Kontinents, sondern inmitten von Westeuropa –, ist durchaus realistisch.

Schottland ist seit über 300 Jahren Teil Großbritanniens. Nun wollen die Schotten ihre Unabhängigkeit zurück. Nach harten Verhandlungen einigte sich Anfang vergangener Woche der britische Premier David Cameron mit Alex Salmond, dem ersten Minister Schottlands und Chef der Mehrheitspartei im Edinburgher Parlament: 2014 sollen die Schotten darüber abstimmen, ob sie politisch-staatlich wieder selbstständig werden wollen.

Die Separatisten der Neuen Flämischen Allianz – der stärksten flämischen Partei – erzielten vorvergangenes Wochenende bei den belgischen Kommunalwahlen einen fulminanten Sieg. Sie haben die größte und wichtigste Stadt des Landes, Antwerpen, erobert. Bart De Wever, der Vorsitzende der Allianz, sagt es immer deutlicher: „Die Flamen müssen regieren können, wie sie es wollen.“ Tatsächlich hat er deren Mehrheit hinter sich. Er plädiert für eine „lockere Föderation“ zwischen Flandern und der Französisch sprechenden Wallonie – in einer Situation, in der ohnehin bereits alles bis zur Unregierbarkeit dezentralisiert ist. Das Ende Belgiens ist abzusehen.

Als kürzlich die beiden spanischen Superclubs Barcelona und Real Madrid in der katalanischen Hauptstadt gegeneinander kickten, da erscholl 17 Minuten und 14 Sekunden nach dem Anstoß ein ohrenbetäubender Lärm. Damit wollten die national gesinnten Fans auf jenes Datum hinweisen, an dem ihr Land die Selbstständigkeit verlor: Im Jahre 1714 eroberte der Bourbone Philipp Barcelona und löste die katalanische Selbstverwaltung auf. Nicht zuletzt angeregt durch die Schotten wollen die in der katalanischen Provinz regierenden Konservativen nun auch ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten. Madrid will das verhindern. Die Mehrheit der Bevölkerung der Provinz ist aber für die Abspaltung von Spanien.

Man kann aus der Geschichte heraus Verständnis für so manchen Separatismus aufbringen: So haben etwa die Wallonen die Flamen jahrhundertelang als armes, ungehobeltes Bauernvolk verachtet und diskriminiert. Jetzt, wo Flandern wohlhabend geworden, das Französisch sprechende Gebiet Belgiens aber verarmt ist, wollen die Flamen mit den ehemaligen Unterdrückern nicht mehr im gleichen Haus wohnen. Das ist nachvollziehbar.

Sympathisch sind die Abspaltungstendenzen aber nicht wirklich: Meist ist es der „Egoismus der Reichen“, wie das deutsche Magazin „Der Spiegel“ schreibt, der sie antreibt. So wie die europäischen Nordländer immer weniger solidarisch mit dem notleidenden Süden der EU sind, so sehen die entwickelten Katalanen nicht ein, warum sie für die ärmeren Regionen Spaniens zahlen sollen, und die Flamen wollen die Wallonen auch nicht mehr „durchfüttern“.

Schottland scheint da eine Ausnahme zu sein. Im Unterschied zu den anderen zeigt der schottische Nationalismus keineswegs das hässliche Gesicht des Partikularismus. Er ist freundlich, linksliberal-grün, weitgehend frei von Xenophobie – und sogar stärker nach Europa hin orientiert als die Engländer. Sie würden sofort den Euro einführen.

Aber auch die Flamen und Katalanen sind nicht – wie sonst Nationalisten in der EU – Anti-Brüssel eingestellt. Im Gegenteil. Und so erscheint der Vormarsch der Separatisten nicht allzu bedrohlich.

Entstehen die neuen Staaten auf friedlichem Weg – was sehr wahrscheinlich ist –, stellen sie in einem Europa des gemeinsamen Marktes und der verschwindenden Grenzen wohl keine größere Gefahr dar. Ja, sie könnten sogar dazu beitragen, die Integration der EU voranzutreiben. Die Anzahl der kleinen Mitgliedsstaaten würde sich vergrößern. Und die haben bekanntlich ein vitales Interesse an starken Gemeinschaftsinstitutionen, die sie vor der Dominanz der großen und mächtigen Staaten der Union schützen können.

Der EU und ihren Politikern sei also geraten: Seid nett zu den Separatisten.

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