Georg Hoffmann-Ostenhof: Die Mahü ist überall
2006 war die Aufregung groß, als der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble dem Islam attestierte, Teil Deutschlands zu sein. Vier Jahre später löste die fast gleichlautende Äußerung des Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff erneut eine hitzige Identitätsdebatte aus. Und nun, weitere acht Jahre später, wird wieder über die Frage gestritten, ob Allah eingebürgert sei oder nicht. Und täglich grüßt das Murmeltier.
Nein, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, stellte Horst Seehofer kurz nach der Bildung der Regierung Merkel IV fest. Der bayerische CSU-Chef und frischgebackene Innen- und Heimatminister konzedierte: Angepasste Muslime mögen Teil der deutschen Heimat sein, ihr Glaube aber nie und nimmer. Und erntete prompt Widerspruch von seiner Chefin.
Angela Merkel weiß natürlich, dass Seehofer die Landtagswahlen im Herbst vor Augen und die rechtsrechte AfD im „G’nack“ hat – also vor allem taktisch agiert. Aber sie nimmt die Aussage ihres Innenministers so ernst, dass sie diese, ohne Seehofer namentlich zu erwähnen, am vergangenen Donnerstag ins Zentrum ihrer Regierungserklärung rückte und kritisierte: So richtig es sei, dass die historische Prägung Deutschlands christlich und jüdisch sei, sagte sie, „so richtig ist es auch, dass mit den viereinhalb Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, ein Teil Deutschlands geworden ist“.
Auf den ersten Blick scheint diese immer wiederkehrende Diskussion bloß Wortklauberei zu sein. Tatsächlich geht es jedoch um alles.
Merkel machte klar, dass im so polarisierten und gespaltenen Deutschland von heute die Regierung alle Diskussionen so führen müsse, „dass am Ende durch konkrete Entscheidungen der Zusammenhalt aller dauerhaft im Land lebenden Menschen größer, nicht kleiner wird“. Genau das Gegenteil tut Seehofer.
Dass sein populistisches Wort vom undeutschen Islam just zu einem Zeitpunkt fiel, da mehrere Moscheen im Land brannten, gibt dem Ganzen noch eine besondere Brisanz.
Die Veränderung ergreift uns nun alle. Sie verändert völlig die Art, wie wir heut ‚dazugehören‘. Sie verändert den Bezug zu ‚unserer‘ jeweiligen Gemeinschaft. (Isolde Charim)
Die österreichische Philosophin Isolde Charim hat in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Ich und die Andern“ eindrucksvoll nachgezeichnet, wie sich die europäischen Länder in den vergangenen 20 bis 30 Jahren grundlegend verändert, wie sie sich aus relativ homogenen Nationen, zu dem entwickelt haben, was die Autorin „pluralisierte Gesellschaften“ nennt. Technologische Revolutionen, kulturelle Umbrüche, Migration: „Die Veränderung ergreift uns nun alle. Sie verändert völlig die Art, wie wir heute ‚dazugehören‘. Sie verändert den Bezug zu ‚unserer‘ jeweiligen Gemeinschaft.“ Was gestern noch selbstverständlich war, ist es nicht mehr.
Genau da setzt der Populismus an. Seehofer verleugnet die nur zu sichtbare Realität: dass Deutschland längst kein weißes, christliches Land mehr, dass es ein vielfältiges Einwanderungsland geworden ist. Den vom gewaltigen gesellschaftlichen Wandel gebeutelten und verunsicherten Menschen wird versprochen, man werde die Homogenität, die alten Selbstverständlichkeiten wiederherstellen.
Bloß: Das geht nicht mehr. Der Zug ist abgefahren. Da kann man noch so sehr Obergrenzen fixieren, Massenabschiebungen inszenieren und Zäune bauen – der Weg zurück ist versperrt und bleibt ein trügerisches Versprechen. Auch wenn man durch restriktive Einwanderungspolitik Migration begrenzt und kontrolliert, was zuweilen sinnvoll ist: Die Migranten kommen und bleiben. Das ist ein historischer Prozess. Und wer diese Realität leugnet, verhindert Problemlösungen, macht bösartig und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhang.
Was hält aber diese pluralisierten Gesellschaften zusammen? Ist da ein neuer, diesmal inklusiver Heimatbegriff notwendig, wie teilweise auch die Linke meint (siehe den Wahlkampf von Bundespräsident Alexander Van der Bellen)? Isolde Charim meint, die Bildersprache der Heimat greife nicht mehr. Adäquat für die pluralisierte Gesellschaft wäre nicht ein Bild der Berge und Wälder, sondern eines „das man auf der Straße findet“. Sie denkt an die Begegnungszone als Paradigma der modernen Gesellschaft.
In diesem Verkehrskonzept ist es nicht mehr die Straßenverkehrsordnung StVO, die den Ausgleich der aufeinanderprallenden, zuweilen antagonistischen Interessen (der Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger, Geschäftsleute usw.) ausgleicht und Sicherheit schafft. An das Regelsystem mit Ampeln, Tafeln und anderen Signalen muss sich jeder halten.
Demgegenüber steht die Idee der Begegnungszone: Da gibt es außer der Geschwindigkeitsbegrenzung kaum Regeln. Die Verkehrsteilnehmer begegnen einander unter Wegfall von eindeutig zuordenbaren Straßenflächen. Um keinen Unfall zu produzieren und sich und die anderen nicht zu verletzen, bedarf es in diesem quasi autoritätsfreien Raum der Rücksichtnahme und Vorsicht jedes Einzelnen.
Und siehe da. Die Begegnungszone funktioniert prachtvoll. Nicht nur auf der Mariahilfer Straße in Wien.
Können diese menschenfreundlichen Prinzipien der Begegnungszone nicht auf die Gesamtgesellschaft umgelegt werden? Klingt utopisch. Aber auch die Idylle auf der Mahü wäre noch vor ein paar Jahren für nicht machbar gehalten worden.
Nachdem Angela Merkel ihrem Innenminister die Leviten gelesen hatte, kehrte sie zu ihrem pragmatischen Optimismus zurück, wiederholte ihr Mantra: „Deutschland kann es schaffen.“ Und fügte hinzu: „Und Deutschland sind wir alle.“