Georg Hoffmann-Ostenhof: Nationaler Schulterschluss
Man kann Jean-Claude Junckers Reformideen für die EU ablehnen. Man kann Zweifel daran hegen, dass diese durchsetzbar sind. Eines geht aber nicht: Sie als undurchdacht abzuqualifizieren: Das sind jene Perspektiven, die der amtierende Kommissionspräsident – und mit Abstand erfahrenste EU-Politiker – vergangenen Dienstag in einer großen Rede darlegte, nämlich mit Sicherheit nicht. „Ich halte dieses Konzept für undurchdacht“, war die Reaktion von Kanzler Christian Kern auf das Drängen Junckers gewesen, alle EU-Länder langfristig, aber so schnell wie möglich in die Währungsunion aufzunehmen und auch den Schengenraum für alle zu öffnen.
Undurchdacht: Das klingt ein wenig von oben herab. Und Kerns Herausforderer Sebastian Kurz fühlte sich veranlasst, Juncker zu belehren: Der Euro und die Schengen-Erweiterung könnten „nicht stattfinden, solange die Kriterien nicht erfüllt sind“. Heinz-Christian Strache wiederum ätzte: Der Kommissionspräsident habe aus dem Brexit nichts gelernt. Und die „Kronen Zeitung“ jubelt über die so überraschende Einigkeit der wahlkämpfenden österreichischen Parteien. Alles sehr peinlich.
Worum geht es aber wirklich? Zunächst hat Juncker nur das Selbstverständliche ausgesprochen: Den Euro sollen alle EU-Staaten bekommen. Das gilt schon seit 1992, als man im Maastricht-Vertrag festlegte, dass alle, sobald die vorgeschriebenen Bedingungen gegeben sind, der Währungsunion beitreten müssen (nur Großbritannien und Dänemark behielten sich vor, selbst entscheiden zu können). Und Juncker will nun ein „Beitrittsinstrument“ schaffen, das Ländern technisch und finanziell hilft, die „Euro-Reife“ zu erlangen. Die Kriterien müssten natürlich erfüllt werden, betont er.
Der Hintergrund: Nicht zuletzt in der Asylfrage, aber nicht nur da, hat sich innerhalb der EU eine Kluft zwischen West und Ost aufgetan. Den zentrifugalen Kräften soll mit dem Euro entgegengewirkt werden: „Wenn wir wollen, dass der Euro unseren Kontinent mehr eint als spaltet, dann sollte er mehr sein als die Währung einer ausgewählten Ländergruppe.“
Das ist aber auch eine Absage an das nun vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron propagierte Europa der zwei Geschwindigkeiten, in dem sich die Länder der Eurozone einen eigenen Finanzminister, ein eigenes Budget und gesonderte Europarlamentarier zulegen. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint dies Juncker, der nicht immer gegen diese Idee war, zu gefährlich: Ein derartiges Modell würde nur das Auseinanderdriften der Länder innerhalb Europas befördern.
In vielem aber stimmt er mit Macron überein: Die EU braucht – so Juncker – ein größeres Budget, um die europäische Wirtschaft auf Wachstumskurs zu halten und ökonomische Ungleichgewichte auszugleichen. Und einen eigenen Finanzminister – der nicht zuletzt der Effizienz wegen der Währungs- und Wirtschaftskommissar sein sollte.
Europa geht es so gut wie schon lange nicht. Auch die Stimmung hat sich gebessert.
Vor allem aber schlägt Juncker vor, mit den für die Leute so unverständlichen multiplen Präsidentschaften der EU Schluss zu machen. Der Kommissionspräsident soll nach seinen Vorstellungen von den EU-Bürgern direkt gewählt werden und gleichzeitig die Präsidentschaft des Europäischen Rates (das Gremium, in dem die Regierungschefs der Mitgliedsländer zusammenkommen) übernehmen. „Wenn wir nur einen Präsidenten hätten, würde das der wahren Natur unserer Union besser gerecht werden, da diese sowohl eine Union der Staaten als auch der Bürger ist.“ Demokratischer und effizienter als bisher wäre eine solche Konstruktion allemal.
Ein ambitioniertes Projekt, gewiss. Aber wann, wenn nicht jetzt, fragt Juncker. „Europa hat wieder Wind in den Segeln. Lassen Sie uns das meiste aus diesem Schwung herausholen.“ Tatsächlich geht es der EU so gut wie schon lange nicht. Darauf weist er hin: Der Wirtschaftsaufschwung hat alle Mitgliedsländer erfasst, das Wachstum der EU hat jenes der USA in den vergangenen zwei Jahren übertroffen. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 2008 nicht mehr. Und noch nie waren so viele EU-Bürger in Beschäftigung.
Auch die Stimmung hat sich gebessert. Die Umfragen zeigen eine wachsende Zustimmung zur EU. Und die Brüssel-feindlichen Populisten haben in den vergangenen Monaten überall Wahlniederlagen erlitten: Norbert Hofer zog nicht, wie befürchtet, in die Hofburg ein. Geert Wilders in den Niederlanden musste sich ebenfalls geschlagen geben. Marine Le Pen und ihr Front National haben auch schon bessere Zeiten erlebt. Sieger wurden jeweils Kandidaten und Parteien, die mit dezidiert proeuropäischen Positionen in den Wahlkampf gingen: Alexander Van der Bellen bei uns, die linksliberalen Parteien in den Niederlanden und Macron mit seiner Partei En Marche in Frankreich.
Haben die österreichischen Parteien die Lehren daraus gezogen? Mitnichten. Die ÖVP von Sebastian Kurz sowieso nicht. Sie orientiert sich von vornherein eher am EU-renitenten Osten als am aufgeklärten Westen, der nicht zuletzt vom EU-Kommissionspräsidenten repräsentiert wird. Aber auch die SPÖ hat es nicht begriffen. Statt offensiv europäisch aufzutreten und das zum Zentrum ihres Wahlkampfes zu machen, hat sie Europa kaum thematisiert und ist jetzt sogar in der Einheitsfront mit Kurz und Heinz-Christian Strache gegen Jean-Claude Juncker und dessen Reformzuversicht gelandet.
Sollten Kern und seine Sozialdemokraten die kommende Wahl verlieren – ganz unverdient wäre es nicht.