Georg Hoffmann-Ostenhof: Oben mit, unten ohne
Das müssen wir erst einmal verdauen. Jahrelang tauchte Österreich in der internationalen Öffentlichkeit, wenn überhaupt, vornehmlich als Land der Nazis, der Keller und der Kellernazis auf. Und dann dieser Imagewandel! Jetzt sollen wir plötzlich das fortschrittlichste und liberalste Land überhaupt sein?
Die bärtige Lady aus Bad Mitterndorf, die für die Akzeptanz der unterschiedlichsten Lebensentwürfe wirbt, bekommt Hunderte Interviewanfragen pro Tag – aus aller Herren Länder. Die Welt zeigt sich begeistert von der Schönheit, Eleganz und progressiven Klugheit der österreichischen Dragqueen. Und wir sind ganz stolz auf diese/n unsere/n große/n Tochter/Sohn. Das globale Lob, das dem Life-Ball-Spektakel und den Wiener Ampeln gespendet wird, die homosexuelle Paare grün und rot leuchten lassen, stimmt uns ebenso patriotisch. Der Song Contest in Wien wurde bereits ganz bewusst als Schauspiel inszeniert, das Österreich als Hort der Toleranz und Weltoffenheit präsentiert.
Wir erleben wirklich erquickliche Tage. Bloß: Es beschleicht einen das mulmige Gefühl, dass alles nicht wahr ist. Die kritischen Kommentatoren geißeln die allgemeine Heuchelei. Und sie haben recht: Der österreichische Boulevard, aus dessen Spalten Tag für Tag genau das Gegenteil von Liberalität und Toleranz quillt, feiert nun „unsere“ Conchita in den höchsten Tönen. Er hat den Life Ball faktisch adoptiert. Und so mancher Österreicher „heftet sich eine gespielte Akzeptanz an das Revers“, wie Frau Wurst in einem etwas schiefen Sprachbild anmerkt.
Und weltoffen? So restriktive Ausländergesetze wie bei uns gibt es in kaum einem anderen EU-Land
Die Realität steht ja wirklich in krassem Widerspruch zum neuen Bild, das sich das Ausland von Österreich macht und das wir so freudig als Selbstbild annehmen. Gewiss ist das gesellschaftliche Bewusstsein nicht mehr ganz so rückständig wie zuvor. Aber wir sind ja immer noch das Land eines Heinz-Christian Strache, dem über ein Viertel der Wähler nachrennen – Tendenz steigend. Der Volksrocker Andreas Gabalier, Conchitas Kontrahent im Geiste, ist nicht weniger beliebt als diese. Und was die Rechte und Freiheiten von Schwulen und Lesben betrifft, so hinkt Österreich Amerika und Westeuropa ganz schön hinterher.
Heiraten dürfen hierzulande Homosexuelle bekanntlich immer noch nicht. „Sich verpartnern“ schon – aber um Himmels willen nicht am Standesamt. Das wäre den Heteros nicht zumutbar. Und weltoffen? So restriktive Ausländergesetze wie bei uns gibt es in kaum einem anderen EU-Land.
Diese seltsamen Austro-Diskrepanzen lassen an Amerika und die Wahl Obamas 2008 denken. Der erste Schwarze im Weißen Haus – wie war doch damals die Nation gerührt. Das sei doch der Beweis dafür, dass der Rassismus im Land überwunden ist, frohlockte man. In den folgenden Jahren zeigte sich freilich, wie sehr die Wirklichkeit dieser hoffnungsfrohen Annahme widerspricht.
Natürlich sind die Amerikaner heute um vieles weniger rassistisch als noch vor 20 Jahren. Die spektakuläre Radikalisierung der republikanischen Obama-Gegner ist allerdings nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass viele Amerikaner dennoch einfach nicht ertragen, von einem „Nigger“ regiert zu werden. Wie tiefgreifend und nachhaltig überwunden ist das antischwarze Ressentiment in der amerikanischen Gesellschaft wirklich? Dass der Rassismus in den Strukturen, in Polizei, Justiz und Strafvollzug nach wie vor fest verankert ist, zeigen jedenfalls eindrücklich die Ereignisse von Ferguson und die Serie der gewaltsamen und tödlichen Übergriffe auf Afroamerikaner in anderen US-Städten.
So bewegt sich eben der Fortschritt: nicht linear und kontinuierlich, sondern durch eine Vielfalt von Diskrepanzen hindurch
Diese Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Image, Selbstbild und Realität, die sich in Österreich anlässlich des Conchita-Hype auftun und im Amerika Barack Obamas zutage treten, sind unschwer zu begreifen. So bewegt sich eben der Fortschritt: nicht linear und kontinuierlich, sondern durch eine Vielfalt von Diskrepanzen hindurch. Wie sagte doch Conchita zur gespielten Akzeptanz? „Wenn ich ehrlich bin, nehme ich auch das. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“
Andere Widersprüche der jüngsten Geschichte geben größere Rätsel auf. So muss erst einmal die Gleichzeitigkeit folgender Tendenzen erklärt werden: Die durchaus vernünftige Absicht, den ungesunden Nikotinkonsum zu reduzieren, wird in einem von Amerika ausgehenden, inzwischen globalen hysterisch-autoritären Kampf gegen die Raucher geführt – ohne jegliche Toleranz. Parallel dazu wird aber das bis vor Kurzem noch verteufelte Kiffen sukzessive liberalisiert – als ob der tiefe Lungenzug aus einem Joint weniger schädlich wäre als der aus einer Zigarette. Wie geht das zusammen?
Wahrscheinlich nicht so bedeutsam, aber umso frappanter ist ein Paradoxon aus dem Bereich der Mode. Seit Langem geht es der Körperbehaarung an den Kragen. Diese wird vom modernen Menschen zunehmend als ekelig empfunden. Der total glatt rasierte Körper ist heutzutage – bis in die intimsten Zonen auch des Mannes – absoluter Imperativ. Seit wenigen Jahren wird aber plötzlich wieder als schön empfunden, wenn an Kinn, Lippe und Backe die Haare ungehemmt sprießen. Der Mann von heute: unten ohne und oben mit. Was ist da los? Kultur- und Psychohistoriker sind um eine Antwort gebeten.
Eines ist freilich sicher – und da schließt sich der Kreis: Ohne diese Renaissance des Bartes wäre Conchita nicht zu der weltweit berühmtesten Österreicherin der Gegenwart geworden.