Georg Hoffmann-Ostenhof: Ringelspiel

Kleine Anmerkungen zu einem 150-Jahr-Jubiläum.

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Mein Großvater wuchs in einer Wohnung am Wiener Kolowratring, dem heutigen Schubertring, auf. Etwa drei Kilometer weiter die Ringstraße entlang wäre dessen Vater fast Opfer der Flammen geworden. Und das kam so: Er hatte Karten zu „Hoffmanns Erzählungen“, kam zu spät, stand an der Garderobe, als plötzlich die Besucher herausdrängten. Er verlangte schnell seinen Mantel zurück und verließ eilig das Etablissement. So „überlebte“ er den legendär gewordenen Ringtheaterbrand des Jahres 1881 – an Stelle dieses niedergebrannten Opernhauses steht nun die Wiener Polizeidirektion. Wäre mein Urahn rechtzeitig zur Ouvertüre da gewesen, ich wäre nicht geboren worden.

Das kam mir nun in den Sinn, da gerade „150 Jahre Ringstraße“ mit Ausstellungen, Fotobänden und historischen Studien gefeiert werden und die Grünen mit der Idee aufmerken lassen, aus dem mehrspurigen Prachtboulevard eine autofreie oder zumindest verkehrsberuhigte Begegnungszone zu machen.

Und ich erinnere mich auch daran, dass – was dieser Tage kaum thematisiert wird – der Ring so gepriesen wie heute in den vergangenen Jahrzehnten nicht immer war.

Eine kleine Reminiszenz: Als Kind in den 1950er-Jahren beschlich mich jedes Mal ein Hochgefühl, wenn bei einem Gebäude im Verlauf des Renovierens und Sanierens Giebel, Säulen, Erker und der ganze Stuck abgeschlagen wurden und sich plötzlich die Fassade in nüchterner Glätte präsentierte: Ich empfand diese als schön und modern. Das war natürlich kindliche Ablehnung des Alten. Aber auch allgemeiner Zeitgeist.

Mein Großvater hegte jedenfalls eine gewisse Sympathie für meine infantile Ästhetik. Geboren in den 1880er-Jahren, gehörte er zu jener Generation des Wiener Bürgertums, welche die „Protzarchitektur“ ihrer Väter, so wie auch die Überladenheit der damaligen Makart-Interieurs, geschmacklos fand. Der eklektische Rückgriff des Historismus der Gründerzeit auf alte Baustile, wo selbst noch Zinshäuser wie Renaissance- oder Barockpalais daherkamen, wurde von den Jungen des Fin de Siècle vielfach als unecht und hohl empfunden, als parvenühafte Anbiederung der reich gewordenen Bourgeoisie an die Aristokratie – als peinliches Nachahmen. Adolf Loos führte damals den Kampf gegen das Ornament.

Es ist noch nicht so lange her, dass sich Wien mit der Ringstraße versöhnt hat, dass man die hohe Qualität wieder zu schätzen weiß, welche die besten Bauten des Historismus – und die stehen am Ring – aufweisen.

Tatsächlich stand die Ringstraße auch später, nach 1945, nicht sehr hoch im Kurs. Große Feiern zu ihrem 100. Geburtstag sind nicht erinnerlich. Der Eifer, mit dem man die Unterführungen baute, die Fußgänger unter die Erde verbannte, um den Autos freie Fahrt zu ermöglichen, zeugt von einiger Geringschätzung gegenüber dieser Prachtstraße. Viele der einstigen Bauherren der Ringstraße und ihre Nachfahren waren außerdem nicht mehr da: Die Nazis hatten sie ermordet oder vertrieben.

Es ist noch nicht so lange her, dass sich Wien mit der Ringstraße versöhnt hat, dass man die hohe Qualität wieder zu schätzen weiß, welche die besten Bauten des Historismus – und die stehen am Ring – aufweisen. Jetzt lässt man sich wieder von der Schönheit dieses weltweit bewunderten städtebaulichen Ensembles faszinieren.

„Der zerbrochene Ring“: So titelt Eva Menasse ihren Beitrag zum runden Geburtstag der Prachtstraße (in „1865, 2015. 150 Jahre Wiener Ringstraße. Dreizehn Betrachtungen“, Metroverlag, Wien 2015). In diesem feinsinnigen Essay freut sich die in Berlin lebende Wiener Autorin, dass die Straßenbahnlinien 1 und 2 seit ein paar Jahren nicht mehr bloß um den Ring kreisen, „Tag für Tag, jahrzehntelang rundherum, so stur und öde wie eine Carrerabahn“. Beide Linien fahren zwar weiterhin ein Stück den Boulevard entlang, aber dann biegen sie ab, „in die richtige Stadt, hinaus ins Weite“, schreibt Menasse.

Für sie ist mit der imperialen Macht auch das Leben aus der Inneren Stadt verschwunden. Die sei zu einem Museum von Baudenkmälern geworden, zu einem Ort für Touristen, in dem „niemand ,Echter‘ mehr wohnt und in das man nur zum Staunen und für den kurzfristigen Genuss eindringt“. Die Veränderung der Linienführung der Einser- und Zweier-Bim sei sensationell: „Die Krone der Stadt ist aufgebrochen und durchlässiger gemacht, zum Nutzen der Menschen“, diagnostiziert die Autorin fröhlich.

Es stimmt: Bis in die späten 1970er-Jahre konnte das Zentrum der Stadt in seiner ganzen historischen Herrlichkeit toter und trauriger nicht sein.

Ein hübscher Gedanke, der wohl seine Richtigkeit hat. Bloß ganz so unbelebt und leer, wie Menasse den 1. Bezirk darstellt, ist der schon länger nicht mehr. Es stimmt: Bis in die späten 1970er-Jahre konnte das Zentrum der Stadt in seiner ganzen historischen Herrlichkeit toter und trauriger nicht sein.

Der Ring wurde aber nicht erst „zerbrochen“, als sich die Ringlinien von ihrer Kreisbewegung emanzipierten und nun hinaus in die Außenbezirke fahren, wo das echte Leben zu Hause ist. Die wirkliche Sensation fand bereits 30 Jahre zuvor statt. Die damals inaugurierte U-Bahn war die wirkliche Revolution. Gegen den erbitterten Widerstand der Wiener Loden- und Tirolerhut-Träger, der Hofratswitwen und Kommerzialräte, welche die Innere Stadt als ihr ureigenes Territorium betrachteten und den Ansturm des Pöbels fürchteten, eroberte die Vorstadt das Zentrum und dynamisierte und belebte dieses in der Folge auf vielfältige Weise.

Und es sieht fast so aus, als ob die Innere Stadt inzwischen stark genug ist, die anschwellenden Touristenströme zu verdauen, ohne zu einer bloßen Kulisse von Sehenswürdigkeiten oder einer Einkaufsmeile für russische und andere Oligarchen zu verkommen.

Im Übrigen finde ich, dass die Überlegungen der Grünen zur Sanierung der Ringstraße zu den besseren ihrer städtebaulichen Ideen gehören.

Georg Hoffmann-Ostenhof