Georg Hoffmann-Ostenhof: Sarkozix
„Frankreich ist aus 100 Völkern gemacht. Jedes hat seine Lebensart, seine Kultur und seine Sprache. Frankreich ist aus 100 Ländern gemacht. Jedes hat seine Landschaft, seine Tradition und seine Architektur. Und trotz dieser Realität hat Frankreich beschlossen, zusammen zu leben. Frankreichs Idee der Nation gründet auf dem Gefühl der Zugehörigkeit und weniger auf dem der Geburt. Als ich Schüler war, erzählten uns unsere Lehrer von unseren gallischen Ahnen. Aber niemand ließ sich täuschen. Jeder wusste: In Nîmes, Narbonne und in Perpignan gab es nicht sehr viele gallische Vorfahren.“ Also sprach Nicolas Sarkozy am 9. Mai 2006.
Jetzt, zehn Jahre später, klingt das ganz anders. Beim ehemaligen französischen Staatspräsidenten, der nächstes Jahr wieder als Kandidat der Konservativen ins Rennen um den Élysée-Palast gehen will, ist nicht mehr die Rede von der Vielfalt der Franzosen. Und was er damals für Unsinn hielt, soll heute gelten. Auf die gallischen Vorfahren will er nun alle vergattern: „Wer Franzose werden will, hat Französisch zu sprechen und wie ein Franzose zu leben. Ab dem Zeitpunkt, an dem Sie Franzose werden, sind Ihre Ahnen gallisch.“ Auch er, der Sohn eines Ungarn und Enkel eines Griechen, sei Franzose durch und durch, versichert er – inklusive der Abstammung von den Galliern.
Absurd. Das klingt wie ein Witz und erinnert ein wenig an die verrückte Bestrebung der Mormonen, Menschen aller Herren Länder dazu zu bewegen, ihre Großeltern und deren Eltern und Großeltern posthum zu Mormonen „taufen“ zu lassen.
Die Historiker antworten auf den jüngsten Vorstoß Sarkozys mit Kopfschütteln. Sie wiederholen, was Sarkozy vor zehn Jahren offenbar wusste und jetzt vergessen zu haben scheint: Das Gerede von „unseren Vorfahren, den Galliern“ – das übrigens längst aus den Schulbüchern verschwunden ist – kam erst im 19. Jahrhundert auf, ist eine Geschichtsklitterung, die seither immer wieder von nationalistischen, allen voran rechtsextremen Politikern bemüht wird.
Schon das, was vor 2000 Jahren als „die Gallier“ galt, sei eine römische Erfindung, um die Bevölkerung eines Gebietes zu benennen, erklären die Historiker: Die Gallier waren aber kein Volk, sondern eine bunte Mischung von verschiedensten Stämmen und Ethnien – Kelten, Ligurer, Iberer, Etrusker.
Die Gallier waren aber kein Volk, sondern eine bunte Mischung von verschiedensten Stämmen und Ethnien – Kelten, Ligurer, Iberer, Etrusker
Auch ihr heldenhafter Kampf gegen Rom, der in amüsanter Form in den Asterix-Comics persifliert wird, sei eine Erfindung. Bei der Romanisierung des Gebiets des heutigen Frankreichs haben viele der gallischen Stämme aktiv mitgemacht.
Und die heutige französische Bevölkerung ist ohnehin das Ergebnis einer permanenten Durchmischung – von den Einwanderern aus dem Nahen Osten über Griechen, Römer und Franken bis zu den Westgoten, Wikingern und Arabern. Nicht zu vergessen: Die Einwohner der französischen Überseegebiete in der Karibik, dem Indischen Ozean und der Südsee gehören ja auch zu Frankreich.
Natürlich geht es Sarkozy nicht um geschichtliche Wahrheit, sondern um Politik: „Wir geben uns nicht mehr mit Integration zufrieden. Die funktioniert nicht mehr. Wir fordern Assimilation“, proklamiert er schroff. Wer sich also nicht mit den Galliern der grauen Vorzeit identifizieren will, stellt sich ins Abseits. Und da schwingt mit: Nur wer Gallier, die in den Mythen-Büchern als große, kräftige Blonde dargestellt werden, zu seinen Ahnen zählt, sei ein echter Franzose. Mit dieser Doppeldeutigkeit, inklusive rassistischem Subtext, spielt der Ex-Präsident, der so nun sein Comeback schaffen will.
Er kämpft gegen den Burkini an den französischen Stränden, gegen Halal in den Schulkantinen und für die gallischen Ahnen. Es sieht fast so aus, als wolle er mit dieser identitären Propaganda Marine Le Pen, die Chefin des Front National, die ihrerseits mit zunehmend gesittetem Auftreten endgültig aus dem radikalen Eck herauszukommen trachtet, rechts überholen. Jedenfalls versucht Sarkozy, mit diesem Populismus seine Kontrahenten auszustechen – allen voran den bisherigen Favoriten der konservativen Vorwahlen, den moderaten ehemaligen Premier Alain Juppé.
Der hat treffend Sarkozy gekontert: Es sei fatal, Assimilation erzwingen zu wollen und von Immigranten zu verlangen, ihre Herkunft zu verleugnen: „Wenn man die Wurzeln eines Baumes kappt, stirbt er“, warnt Juppé. Aber kann die von ihm repräsentierte Vernunft der Mitte in Zeiten der terroristischen Gefahr, des großen Frusts und der politischen Polarisierung überhaupt reüssieren?
Sarkozy, der noch vor Kurzem bei der Bevölkerung höchst unbeliebt war und weit zurücklag, ist inzwischen Juppé in den Umfragen auf den Fersen. Es wird nicht mehr ausgeschlossen, dass er das Rennen macht und im November zum Präsidenten-Anwärter des bürgerlichen Lagers gekürt wird.
Dann aber wird es wirklich gefährlich: Einig sind sich alle, dass der Kandidat der französischen Linken – wer immer das auch sein wird – kommenden April nur sehr wenig Chancen hat, in die Stichwahl zu kommen. Im zweiten Durchgang stünden einander also Sarkozy und Frau Le Pen gegenüber. Und dann würde sich wohl das Schmied-Schmiedl-Syndrom einstellen. Die Franzosen könnten versucht sein, das Original zu wählen. Das bisher als unwahrscheinlich gehaltene Horrorszenario, dass die Anführerin des französischen Rechtsextremismus tatsächlich in den Élysée-Palast einzieht, könnte zur Realität werden.
Man kann nur hoffen, dass die Franzosen letzten Endes doch nicht auf Nicolas Sarkozys zynischen Gallier-Schmäh reinfallen.